Es war der 25. Mai, als George Floyd (†46) in der amerikanischen Grossstadt Minneapolis von einem weissen Polizisten umgebracht wurde. Die Schockwelle erreichte uns wenige Tage später, gestern Samstag zeigte sich nun auch die Wut auf den Strassen mehrerer Schweizer Städte.
In Zürich demonstrierten weit über 10'000 Menschen. Aktivisten knieten nieder und reckten geballte Fäuste in die Luft – seit den 1960er-Jahren ein antirassistisches Symbol. Am Rande der friedlichen Kundgebung kam es zu Scharmützeln mit der Polizei.
In St. Gallen, Luzern und Lausanne kamen jeweils etwa 1000 Demonstrierende zusammen. In Bern versammelten sich mehr als 5000 Menschen auf dem Bundesplatz. Sie reckten Schilder mit Aufschriften wie «White Silence Is Violence» oder «Black Lives Matter» (Weisses Schweigen ist Gewalt/Schwarzes Leben zählt) in die Höhe und skandierten «No Justice, No Peace» (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden).
Bessere Vernetzung
«Die Zeit war reif», sagt Tidiane Diouwara (53), ein Vorkämpfer der Proteste in der Schweiz. Dass sich die junge Generation nicht mehr alles bieten lasse und dass die sozialen Medien die Menschen besser vernetze, hätten die Proteste nach Floyds Tod befeuert.
«Junge schwarze Schweizer, die hier aufgewachsen sind, verstehen nicht, warum man sie anders behandelt als ihre weissen Freunde.» Diouwara sieht die Schweizer Gesellschaft am Wendepunkt. «Der Frauenstreik und die Klimabewegung haben uns Mut gegeben. Wir sehen, dass eine Veränderung in den Köpfen der Leute möglich ist.»
Nachdem der Lockdown wochenlang die Innenstädte leerte, ist der Protest nun definitiv zurück. Gestern beherrschten zwar Demonstrationen gegen den Rassismus das Bild. Am Samstag gingen in Frankreich aber auch wieder Gelbwesten auf die Strasse, in Hongkong marschierten Studenten zum Jahrestag ihrer Proteste gegen China. Erinnerungen an die weltweiten Klimademonstrationen sind noch frisch, ebenso an die Märsche gegen sexuelle Belästigung und – in der Schweiz ganz besonders – an den Frauenstreik 2019.
Renaissance des Protests
Der Protest erlebt eine Renaissance. Wie eine neue Gesellschaft aussehen könnte, wird nicht auf dem politischen Parkett verhandelt, sondern vor aller Augen.
Die Politologin Cloé Jans (34) spricht von einem neuen Zeitgeist: «Aus Sicht der Protestierenden hat die politische Elite keine Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit. Noch immer sind Mann und Frau nicht gleichgestellt, einzelne Bevölkerungsgruppen werden wirtschaftlich und sozial benachteiligt, es fehlt der politische Wille, die Klimafrage seriös anzugehen.» Dies sei ein perfekter Nährboden für Bewegungen und Proteste verschiedener Couleur, so die Mitarbeiterin des Berner Forschungsinstituts GFS weiter. «Zudem wächst eine Generation heran, die zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr daran glaubt, dass es ihr wirtschaftlich und sozial dereinst besser gehen wird als ihren Eltern.»
Laut Jans führt die digitale Vernetzung zu einer veränderten Wahrnehmung von Themen wie Klimakatastrophe oder Rassismus: «Proteste aus aller Welt werden in Realtime über die sozialen Medien verbreitet. Das wirkt stark emotionalisierend – und bewegt Menschen eher, sich einem Protest anzuschliessen.»
Frauenstreik als Zeichen des Unmuts
Dass der Unmut gewachsen ist, zeigte sich besonders deutlich, als genau heute vor einem Jahr, am 14. Juni 2019, Hunderttausende Frauen für Anliegen wie Lohngerechtigkeit und mehr Mitsprache auf die Strasse gingen. Es war die grösste Demonstration der Schweizer Geschichte.
Simona Isler (38) erinnert sich: «Die Bewegung hat eine Dynamik entwickelt, die wir uns so nie erträumt hätten», so die Mutter zweier Kinder, Mitglied der Eidgenössischen Kommission dini Mueter (EKdM), die sich in Folge des Frauenstreiks gebildet hat und für eine gute Kinderbetreuung eintritt. Isler, die den Frauenstreik in Bern mitorganisierte, erfreut vor allem, dass sich nicht nur langjährige Feministinnen der Bewegung angeschlossen haben. «Wir standen Schulter an Schulter mit unseren Nachbarinnen und Arbeitskolleginnen, mit Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft. Genau deshalb war der Frauenstreik so kraftvoll.»
Frauenanteil im Nationalrat gestiegen
Eine Folge: Neue Netzwerke sind entstanden. Und als die Schweizer Stimmbevölkerung im Oktober letzten Jahres das neue Parlament wählte, setzte es eine politische Sensation: Der Frauenanteil im Nationalrat stieg auf über 40 Prozent. «Ohne Frauenstreik, ohne den Druck der Strasse wäre dies niemals möglich gewesen», sagt Simona Isler heute.
Ein Jahr nach dem Streik sorgen Frauen auf der Strasse erneut dafür, dass ihre Anliegen nicht in Vergessenheit geraten: Für heute Sonntag sind landesweit Aktionen angekündigt. So plant das Frauenstreikkollektiv Bern auf der Protest-Route von 2019 einen feministischen Postenlauf. Isler: «Wir kämpfen weiter, gerade weil die gesellschaftlichen Veränderungen bisher nur vereinzelt spürbar sind.»
Die Mobilisierungskraft von Protestereignissen wie dem Frauenstreik oder der Bewegung der Klimajugend beweist, dass ihre Themen breite Bevölkerungsschichten ansprechen. Nur deshalb gelang es der heute 17-jährigen schwedischen Schülerin Greta Thunberg, eine der grössten Protestaktionen in der Geschichte der Menschheit auszulösen.
Klimamärsche als Beispiel
Für Roman Künzler (39) sind die Klimamärsche ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bewegung imstande ist, verschiedene Anliegen in sich zu vereinen: «Die Klimabewegung ist ganz klar antirassistisch, feministisch, setzt sich für gute Arbeitsbedingungen und eine gerechte Verteilung der begrenzten Ressourcen ein», so der Aktivist und Unia-Gewerkschafter.
Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey (45), der die internationalen Proteste zu seinem Forschungsgegenstand gemacht hat, sieht in dem frappanten Anwachsen gesellschaftlichen Aufbegehrens ein Muster. Als «neue Lust am Protest» beschreibt er das Phänomen: «Die ‹Occupy›-Bewegung 2010 hat die Rückkehr zu den globalen Protesten markiert.» Die seien zwar schnell verebbt, kehrten nun aber in neuer Form zurück. «Wir befinden uns an einem Kipppunkt.»
Moderne Konsumgesellschaften befänden sich in einer fundamentalen Krise. «Viele Bürger fühlen ihre Gerechtigkeitsansprüche nicht verwirklicht – aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sozialen Zugehörigkeit. In den Städten wird es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Die Krankenkassenprämien steigen. Und die Leute mit schlecht bezahlten Jobs kommen kaum noch über die Runden.»
Gesellschaft handelt selbst
Weder der Markt noch die Demokratie hätten auf diese Herausforderungen angemessen reagiert, stellt Nachtwey fest. «Nun nimmt die Gesellschaft das Heft selbst in die Hand.» Die Bewegungen dieser Tage gäben auch etablierten Volksparteien eine Chance, nicht länger an den Menschen vorbeizupolitisieren. «Sie könnten sich in der Rolle eines Krisenmanagers revitalisieren.»
Nationalrätin Mattea Meyer (32), die mit ihrem Parteikollegen Cédric Wermuth (34) das SP-Parteipräsidium anstrebt, stimmt Nachtwey zu: «Soziale Bewegungen stossen Veränderungen an. Sie zwingen das Parlament dazu, sich mit drängenden Themen auseinanderzusetzen, die viel zu lange ignoriert wurden.»
Bei Themen wie Klima oder Gleichberechtigung von Mann und Frau verbuchten die sozialen Bewegungen von 2019 einige Erfolge. Aktuell demonstrieren Opfer und Gegner des Rassismus. Wie gross ihr Einfluss auf die institutionalisierte Politik sein kann, muss sich in der Schweiz erst noch zeigen.
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