So hoch ist momentan die Lawinengefahr in den Bergen
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Expertin erklärt:So hoch ist momentan die Lawinengefahr in den Bergen

Die neue Lust am Schnee
Ansturm auf die Alpen

Tourengehen, Schneeschulaufen und Freeriding erleben seit der Pandemie einen Hype. Doch viele Hobbysportler unterschätzen die Gefahren. Und die Natur leidet.
Publiziert: 13.02.2022 um 13:55 Uhr
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Aktualisiert: 13.02.2022 um 18:40 Uhr
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Im Gänsemarsch in die Natur: Wie diese Gruppe aus Fribourg zieht es die Leute in die Berge.
Foto: Thomas Meier
Tobias Marti und Sven Zaugg Text, Thomas Meier und Stefan Bohrer Fotos

Diese Frau kommt nicht alleine. Fünf, zehn, zwanzig Leute zieht sie in einer Karawane hinter sich her.

Die Gruppe aus Freiburg, die sich da im Gänsemarsch dem Berner und Freiburger Naturpark Gantrisch nähert, offenbart einen grossen Trend: Wintersportler suchen sich zunehmend ihren Weg fernab der Lifte. Die Pandemie hat die Lust verstärkt, sich in der Natur zu bewegen – aber keinesfalls in Menschenmassen.

Schneeschuhwanderungen und Tourenski auf dem Vormarsch

Wie Simone (49) und Andreas (53) aus Bern, die nach Skitagen in Grindelwald BE gerade auf Schneeschuhe umsteigen: «Unsere ersten eigenen.» Ein Glück, überhaupt noch welche zu finden. Vielerorts sind sie ausverkauft.

Auch Tourenski gehen seit Jahren bestens. Viele Hobbysportler unternehmen wahre Expeditionen: Sie rüsten sich mit GPS, laden Touren-Apps herunter, hüllen sich in teure Funktionskleidung. Lawinensuchgeräte, Sonden, Schaufeln und Airbags gehören dazu. Das Publikum ist kaufkräftig.

In den Filialen des Outdoor-Händlers Transa spürt man «besonders bei den Schneeschuhen seit Pandemiebeginn einen Trend». Fritschi, die Kandertaler Herstellerin von Tourenbindungen, musste sich mit «grösseren Vorbestellungen für die laufende Saison vorbereiten». Und das Lausanner Unternehmen Movement Skis sieht für den Tourenboom auch in Zukunft «doppelstellige Wachstumszahlen» voraus.

SAC-Mitgliederzahl hat sich in den letzten 3 Jahren fast verzehnfacht

Alpenvereine, Bergsteiger und Sportschulen bieten unzählige Kurse, wo geübt wird, wie man sich im Gelände bewegt oder Vermisste mit dem Suchgerät aufspürt. «Die Pandemie hat einen regelrechten Berghype ausgelöst», sagt Daniel Marbacher, Geschäftsführer des Schweizer Alpen-Clubs. In den letzten drei Jahren wuchs die Zahl der SAC-Mitglieder um 20'000 auf über 170'000. Wer auf Nummer sicher gehen will, bucht einen Bergführer.«Es gibt Tage, wo wir fast überrannt werden», sagt Simone Oberhänsli vom Skitouren-Anbieter Höhenfieber im luzernischen Root. Auch der Schweizer Bergführerverband (SBV) verzeichnet deutlich mehr Anfragen für geführte Schneetouren, vor allem von Anfängern.

Laut SAC schnallen rund 300'000 Schweizer mehrmals im Jahr Tourenski an. Die Tourentage sind von jährlich 700'000 (1999) auf weit über 2,2 Millionen gestiegen.

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Freizeitspass mit Gefahren

Die Lust am Freizeitspass abseits gesicherter Pfade und Pisten birgt aber auch Gefahren. Und nicht wenige Hobbysportler unterschätzen das Risiko. Gefährliche Schneeverhältnisse in den Alpen forderten in den letzten Wochen zahlreiche Todesopfer. Seit Anfang Februar kamen hier sechs Personen bei Lawinenniedergängen ums Leben.

Darunter auch ein 17-jähriger Snowboarder, der am Dienstagnachmittag im Skigebiet Darlux in Bergün GR abseits der Pisten tot aus den Schneemassen geborgen wurde. Derzeit gilt Warnstufe 3: erheblich.

In den letzten zwei Wochen musste die Zermatter Bergrettung viermal ausrücken, um Verschüttete zu bergen, «obwohl allen bewusst gewesen sein muss, dass die Schneedecke in diesem Winter sehr, sehr brüchig ist», so Rettungschef Anjan Truffer. «Kaum hat es geschneit, fahren sie einfach kopflos drauflos.»

Zahl der Todesopfer seit Jahren rückläufig

Das Problem sieht er weniger bei den Tourengängern, die im Durchschnitt gut vorbereitet und risikobewusster agierten. «Kopflos» im Gelände unterwegs seien vor allem Freerider, deren Zahl laut Truffer in den letzten 20 Jahren explodiert sei: «Die ziehen wir dann aus Lawinen und Gletscherspalten.»

Urs Egli (45) von den Bergbahnen Titlis spricht vom Monat der Gefahr, dem «Danger December». Wenn zu Saisonbeginn die Vorfreude bei manchen in übertriebene Risikobereitschaft umschlage, ereigneten sich im Innerschweizer Skigebiet die meisten tödlichen Unfälle.

Abseits der Pisten verlieren in der Schweiz gemäss Zahlen des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) durchschnittlich 33 Personen pro Jahr ihr Leben, fast zwei Drittel in Lawinen.

Im Verhältnis zur Anzahl Tourentage ist die Zahl der Todesopfer allerdings seit Jahren rückläufig. Grund dafür ist laut dem Zermatter Rettungschef Truffer auch der Umstand, dass die Bergrettung heute schneller vor Ort sei: «Schon klar, dass es dann weniger Tote gibt», sagt er.

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Das Lawinenbulletin rettet Leben

Alpinismus ist längst kein Nischensport mehr. Das beobachtet auch der Prättigauer Bergführer Andres Bardill: «Je mehr Leute unterwegs sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passieren kann.» Es lasse sich jedoch kaum exakt ermitteln, ob die Leute die Gefahr unterschätzen oder nur unvorsichtig sind, so der Geschäftsführer der Alpinen Rettung Schweiz (ARS).

Jemand, der die weisse Gefahr bestens kennt, ist Lawinenwarnerin Christine Pielmeier (58). Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die Heidenheimerin (D) in Davos am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung. Gemeinsam mit Glaziologen, Geografen, Umweltnaturwissenschaftlern, Ingenieuren und Physikern liefert sie die wichtigste Informationsquelle für Tourengänger und Freeriderinnen – das Lawinenbulletin.

SonntagsBlick begleitete die Lawinenwarnerin auf einer Skitour im bündnerischen Flüelatal. Dort macht sie die Probe aufs Exempel: Mit der Lawinenschaufel legt sie einen Schneeblock frei, klopft mit der Hand aufs Blatt, die Altschneedecke bricht, der Block kommt ins Rutschen. «Sehen sie», sagt Pielmeier, «viel Neu- und Triebschnee auf einer schwachen Altschneedecke können zu gewaltigen Lawinen führen!»

Ein «ausgeprägtes Altschneeproblem», wie Pielmeier diese Konstellation bezeichnet, erhöhe das Unfallrisiko um die Hälfte – zusätzlich zur jeweils gemeldeten Gefahrenstufe. Ein Risiko, das Tourengänger und Freerider auch in den kommenden Wochen auf keinen Fall unterschätzen dürfen, wie die Lawinenspezialistin betont.

Tourengeher sorgen für mehr Verkehr auf den Pisten

Gerade unerfahrene Tourengeher bleiben wegen solcher tödlichen Gefahren im Gelände lieber innerhalb der Skigebiete. Am Rand der Pisten sieht man sie dann im Gänsemarsch den Berg hinaufsteigen. «In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Tourengänger am Pistenrand verdoppelt», beobachtet Stefan Kern von der Skiarena Andermatt-Sedrun. Auf der Talabfahrt, die Skifahrer und Schlittler für ihre Schlussfahrt brauchen, führe das neue Phänomen zu zusätzlichem Verkehr, der Mix sei eine Herausforderung. Um dem gefährlichen Gegenverkehr auszuweichen, starten viele Tourengeher erst am Abend. Wenn die Lifte stehen, die Pistenkontrolle abgeschlossen ist, montieren sie ihre Stirnlampen.

Allerdings präparieren nachts Pistenbullys das Terrain. Die Raupenfahrzeuge sind im Steilhang mit Seilwinden gesichert. Stahlseile, die mehrere Meter ausschlagen können, sind bis zu einem Kilometer lang gespannt. In der Dunkelheit bedeuten sie eine unsichtbare Gefahr für Tourenfahrer. Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen. In Andermatt-Sedrun ist die Weisung eindeutig. «Wenn die Feierabend-Tourer kommen, sperren wir ab», sagt Stefan Kern.

Wer nicht in der Spur bleibt, kassiert eine Busse

Im Naturpark Gantrisch trifft derweil die nächste Schneeschuhkolonne ein und verschwindet zwischen den Tannen. Dort – unsichtbar für die Besucher – kauern Birkhühner unter der Schneedecke, verstecken sich Gämsen und Hirsche im Gehölz. Wegen des Ansturms verschärfte der Naturpark jüngst sein Regime. Wer nicht in der Spur bleibt, kassiert eine Busse.

Jahrelang galten Schneeschuhgeher und Skitourengänger als Naturliebhaber, die den Berg respektieren – anders als Pistenskifahrer, die das Alpen-Angebot der grossen Skiorte konsumieren.

Stress für Wildtiere

Ulrike Pröbstl-Haider, Professorin für Naturschutzplanung aus Wien, ist von Berufs wegen keine Anhängerin der Alpen-Urbanisierung. Doch sie stellt fest: «Ökologisch und raumplanerisch haben die Skipisten den Vorteil, dass sie viele Menschen auf engem Raum bündeln.» Dies entlaste den Rest der Natur.

«Für Wildtiere ist die steigende Zahl der Leute fernab der Pisten gravierend.» Wenn alle auf ihrem individuellen Trip seien und ihre eigene Abfahrtsspur ziehen wollen, würden die Ruhezonen massiv gestört, kritisiert sie. Pröbstl-Haider rät dringend, das individuelle Erlebnis auf bestimmte Bereiche zu begrenzen.

In den bayerischen Alpen, wo die Professorin derzeit weilt, haben die Behörden überall Wildschutz-Schilder aufgestellt. Es half alles nichts, wie Pröbstl-Haider beobachtet hat: Unbekannte haben die Schilder bereits wieder abmontiert.


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