Sie waren Freunde – jetzt liegen sie im Streit: Jonathan Kreutner (45), Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), die wichtigste Stimme der Jüdinnen und Juden des Landes. Und Samir (68), preisgekrönter Filmemacher, in Bagdad geboren und als Sechsjähriger in die Schweiz migriert.
Kreutner sagt: «Der Wandel von Samir erschreckt mich.» Samir fragt: «Joni, warum bezeichnest du mich als Antisemiten?»
Was ist passiert?
Seit Hamas-Terroristen am 7. Oktober Israel angriffen und die Armee des Judenstaats in den Gazastreifen einmarschierte, dreht sich auf dem X-Profil von Samir Jamal Aldin beinahe alles um den Krieg im Nahen Osten. In seinen Postings auf dem Kurznachrichtendienst weist er auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung hin, erhebt aber auch wilde Vorwürfe gegen Israel.
«Strudel absurder Verschwörungstheorien»
Im März teilte er ein Foto des Quds News Networks, einer Medienagentur, die der Hamas nahesteht. Es zeigt zwei zerstörte Häuser im israelischen Kibbuz Be’eri, wo die Terroristen rund 100 Zivilistinnen und Zivilisten massakriert haben. Samir: «Zerstörte Häuser im Kibbuz Be’eri. Jeder Mensch versteht sofort, dass ein paar Hamas Kämpfer mit ein paar Kalaschnikows keinen solchen Schaden anrichten konnten.» In Israel wüssten inzwischen alle, dass die eigene Armee dies gemacht habe.
Es sind Verdrehungen wie diese, die Jonathan Kreutner verstören. Die beiden kennen sich von früher, haben wiederholt zusammengearbeitet. Vor 25 Jahren übersetzte Kreutner die Lebensgeschichten von irakischen Juden ins Deutsche. Die Protagonisten dienten als Grundlage für Samirs mehrfach ausgezeichneten Film «Forget Baghdad», der ihm 2002 zum Durchbruch verhalf.
Heute hält sich Kreutner mit Kritik nicht zurück. Gegenüber «20 Minuten» sagte er: «Samir insinuiert, Israel selbst sei für die brutalen Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten verantwortlich.» Damit begebe er sich eindeutig «in den Strudel absurder Verschwörungstheorien». Über Aussagen Samirs in einem anderen X-Beitrag sagt Kreutner, sie erfüllten die Kriterien der international anerkannten Antisemitismusdefinition. Der Filmemacher hatte die Lage im Gazastreifen in dem mittlerweile gelöschten Text mit dem Holocaust verglichen.
«Ich recherchiere in den sozialen Medien»
Samir wehrt sich gegen die Vorwürfe. Zu den umstrittenen Postings sagt er: «Aufgrund der einseitigen Berichterstattung recherchiere ich in den sozialen Medien zum Krieg. Falls ich dabei unwahre Angaben oder Propaganda gepostet habe, tut mir das leid.» Im Krieg sei die Wahrheit das erste Opfer.
Manchmal zerbrechen daran auch Freundschaften. Der Filmemacher schreibt in einem offenen Brief: «Lieber Jonathan, warum führst du eine Kampagne gegen mich als Person?» – und erinnert Kreutner daran, dass seine eigene Ehefrau jüdischer Herkunft ist. Grosse Teile der Familie seiner Partnerin seien im Holocaust ermordet worden. Samir fragt: «Glaubst du wirklich, dass ich vor diesem Hintergrund ein Antisemit bin?» Dem SIG-Generalsekretär wirft er zudem vor, ihn nie direkt kontaktiert zu haben, um über die Vorwürfe zu reden – und fordert ihn zur öffentlichen Debatte über das Thema «Ist Israelkritik antisemitisch?» auf: «Ich schlage vor, dass wir uns im grossen Saal der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich treffen, oder wo immer du willst.»
Verhärtete Fronten
Kreutner winkt ab: «Ich führe keine öffentlichen Debatten über Verschwörungstheorien. Auch Dialog hat seine Grenzen.» Er führe zudem keine «Kampagne» gegen Samir, er kommentiere nur auf Anfrage nüchtern dessen öffentlich verbreiteten Aussagen. «Leider stelle ich bei ihm keine Einsicht fest.»
Dazu Samir: «Wie soll ich zu einer Einsicht kommen, wenn Joni partout nicht mit mir sprechen will? Er hat meine Handynummer und könnte mich anrufen, anstatt mich zum Abschuss als angeblichen Antisemiten freizugeben.»
Die Fronten bleiben verhärtet.