Aargauerin, Schwester, Tochter, Pflegefachfrau, Pferdeliebhaberin – Vanessa Widmer weiss, wer sie ist. Bis zu dem Tag vor drei Jahren, seit dem sie vieles nicht mehr weiss.
Vanessa Widmer, 23 Jahre jung, kommt nach einem harten Arbeitstag nach Hause, lässt sich aufs Sofa fallen, zappt von Fernsehkanal zu Fernsehkanal. Die Mutter gesellt sich zu ihr ins Wohnzimmer, sagt plötzlich: «Ich muss dir etwas sagen, du bist jetzt alt genug für die Wahrheit.» Schiebt die Balkontür zu, tritt an sie heran, fährt fort: «Papi ist nicht dein richtiger Papi.» Sechs Wörter, bäm.
Bei Vanessa Widmer sickert die Wahrheit nur langsam durch. Ihre Augen suchen das Gesicht der Mutter nach Spuren von Ironie ab. Nichts. Die Mutter bleibt ernst und vage, weiss nicht recht: Wie sagt man das seinem Kind nach so vielen Jahren? Sie sagt: «Papi ist zeugungsunfähig.» Vanessa Widmer ist verwirrt: Was jetzt? Wer ist der biologische Vater? Sie erfährt: ein Samenspender. Name, Herkunft, Alter, Beruf, Haarfarbe – unbekannt.
Vanessa Widmer, heute 26 Jahre alt, blickt nun in einem Café im Aargau zurück, sagt: «Entwurzelt» – so habe sie sich auf einen Schlag gefühlt. Dabei blieb es nicht. «Ich war mir plötzlich selbst fremd.» Ist sie sich immer noch. Sie muss ihre eigene Erzählung neu schreiben. Den roten Faden finden. Sie sucht nach dem Anfang, der zu ihrem Ende passt: Vanessa Widmer ist ein Spenderkind. Und will den Mann finden, der sie anonym zu dem gemacht hat.
Heute müssen sich die Spender mit ihren Personalien registrieren lassen. Die Kinder haben das Recht, nach 18 Jahren mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Das Fortpflanzungsmedizingesetz aus dem Jahr 2001 will das so. Die anonyme Samenspende ist seitdem verboten, davor war sie Standard. Mit ihr ein Tabu, das die Ärzte miterschufen. Sie forderten von den Eltern absolutes Schweigen. Familiengeheimnisse wucherten so zu Ungeheuern im Keller heran. Nun scheuchen Spenderkinder diese ans Licht, sie wollen wissen, wer ihre Erzeuger sind. Melden sich im «Beobachter», in der «NZZ» oder der SRF-«Rundschau» zu Wort. Sie haben von den Eltern davon erfahren oder – und das ist neu – durch einen DNA-Test aus den USA.
Sie zweifelt: Was ist noch wahr?
Vanessa Widmer muss sich nach der Nachricht erst einmal neu sortieren. In ihrem Kopf gehen tausend Fensterchen auf, Flashbacks, monatelang. Nun macht alles Sinn, der grosse, braunhaarige Junge, den sie früher herbeifantasierte, der mit ihr spielte, zeichnete, der für sie so wirklich war wie ein richtiger grosser Bruder. Nun sagt sie: «Vielleicht gibt es diesen Bruder tatsächlich.» Oder das unbegründete Gefühl von damals, etwas am Rand der Familie zu stehen. Aussen vor.
23 Jahre lang ging sie von einem anderen Familienbild aus. Sie zweifelt: Was ist noch wahr? Was, wenn ihre zwei Jahre ältere Schwester nur ihre Halbschwester ist? Sie, deren Haare sich blond locken und Augen blau leuchten, stammt vom gleichen Spender ab, heisst es. Doch Widmers Haare fallen dunkel und schnurgerade den Rücken hinab, und ihre Augen schimmern kastanienbraun. Die Schwester ist auch die Stille, die vieles mit sich selbst ausmacht, und Widmer die Frau, die die Dinge anspricht, von sich sagt: «Ich gehe den Problemen gerne entgegen.»
Mit diesem Text geht sie an die Öffentlichkeit, auch wenn es ihr schwerfällt. Bisher weiss in ihrem Umfeld niemand etwas. Vanessa Widmer sieht keinen anderen Weg, sie muss ihren Erzeuger finden, ein Drang so stark wie bei anderen der Kinderwunsch. Sie will wissen, was für ein Mensch der Mann ist. Ob sie Charakterzüge von ihm hat, ihren Durchsetzungswillen. Ob sie sich ähnlich sehen. Ob es an den Genen liegt, dass sie so gerne zeichnet – als Einzige in der Familie. Ob er eine Erbkrankheit hat. Und sie Halbgeschwister. Ob er seine Kinder je kennenlernen wollte. Und warum er überhaupt gespendet hat.
Vanessa Widmer sucht ihren biologischen Vater. Sie sagt: «Ich habe keine bestimmten Erwartungen, ich möchte ihn einfach gerne kennenlernen.» Gesucht sind Männer, die vorwiegend an der Universität oder ETH Zürich studiert haben. Die zwischen 1982 und 1997 anonym eine Samenspende abgegeben haben. Entweder bei den Gynäkologen Diego Hagmann in Zürich oder bei Jürg Kuster in Ammerswil AG. Hinweise bitte an Vanessa Widmer: widmervanessa@gmx.ch
Vanessa Widmer sucht ihren biologischen Vater. Sie sagt: «Ich habe keine bestimmten Erwartungen, ich möchte ihn einfach gerne kennenlernen.» Gesucht sind Männer, die vorwiegend an der Universität oder ETH Zürich studiert haben. Die zwischen 1982 und 1997 anonym eine Samenspende abgegeben haben. Entweder bei den Gynäkologen Diego Hagmann in Zürich oder bei Jürg Kuster in Ammerswil AG. Hinweise bitte an Vanessa Widmer: widmervanessa@gmx.ch
Er war Nummer 81
Die Gründe für eine Spende sind vielfältig. Das zeigen die Gespräche, die wir mit ehemaligen anonymen Spendern geführt haben. Was sie eint: Sie sind Akademiker. Ein ETH-Absolvent, über 80 Jahre alt, der wie viele nicht will, dass seine erwachsenen Kinder von seiner Spende aus den Achtzigerjahren erfahren, sagt: «Ich wollte den Frauen zu einer Familie verhelfen.»
Anders Daniel Ludwig, 66 Jahre alt, Schauspieler in Zürich und als Einziger bereit, mit vollem Namen darüber zu sprechen. Er und seine zwei WG-Genossen finanzierten 1983 mit den Samenspenden ihre Miete. Für jede Ejakulation gab es 60 Franken – «pro Schuss e Sächzger», witzelten sie damals. Der damalige Schauspielschüler sagt: «Ich fand es aufregend.» Bis ihm dämmerte: Was für ein Druck!
Am Anfang stand: Beinahe-Abstinenz. Kaum Alkohol, nur wenig Sex – andernfalls lieferten die Männer nicht genügend Spermien. Und jeden Mittwochmorgen das gleiche Prozedere: Ludwig musste auf Knopfdruck liefern. Noch vor neun Uhr. Übernächtigt vom Bühnenauftritt am Vorabend, füllte er ein Reagenzglas mit seinem Sperma, versorgte es in der Jackentasche, schritt stracks zur Frauenklinik, die heute zum Inselspital in Bern gehört. Huschte vorbei am Empfang, wo ihn die Rezeptionistin vielsagend anlächelte – «das war peinlich», verstaute das Glas hinter einem Schiebefenster in ein Holzgestell mit nummerierten Löchern. Er erinnert sich: «Ich hatte die 81.»
Nach ein paar Monaten steckte dort ein Zettel: «Bitte beim Doktor melden.» Etwas stimmte mit seinen Spermien nicht. Durch das Mikroskop, zu dem ihn der Arzt führte, sah er: «Viele waren tot, andere drehten sich um ihre eigene Achse wie chinesische Tanzmäuse.» Damit fiel er als Spender wieder weg.
Die Jahre vergingen, Ludwig dachte nicht mehr daran. Spielte auf Bühnen in Zürich, Bern, Hamburg, machte bei Fernsehserien wie «Wilder» mit, war oft auf Reisen. Sein Leben war rund. Bis es durch eine «Rundschau»-Sendung eine Delle bekam. Er sah das Spenderkind Hannes Streif, der seinen Erzeuger suchte. Zum ersten Mal dachte Ludwig, reflexartig: «Das könnte ich sein. Ich könnte Vater sein.»
Die Eltern: Zum Schweigen verdammt
Vanessa Widmer und Daniel Ludwig – sie steht am Ende, er am Anfang einer Erzählung, wie sie Widmer neu schreiben muss, und beide stehen sie vor den gleichen Fragen, auf die schwer Antworten zu finden sind. Der Grund: die Ärzte. Die Schweigekultur. Sie war legal.
1981 erliess die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften Richtlinien: Spender und Eltern dürfen sich nicht kennenlernen. Das oberste Gebot: der Schutz der Spender. Ihre Anonymität.
Das bildet nun die Mauer, die Spenderkindern wie Vanessa Widmer im Weg steht. Sie recherchiert, findet den pensionierten Arzt, der die Insemination bei ihrer Mutter durchführte: Jürg Kuster, er praktizierte früher in Ammerswil AG. Sie telefoniert mit ihm, mehrmals, fragt ihn über seine Arbeit aus, über ihren Spender. Und kommt nicht weiter.
Vanessa Widmer ist nicht die Erste, die sich bei Kuster, 77 Jahre alt, meldet. Er sagt: «Eine Handvoll von Spenderkindern lassen nicht locker.» Er versteht ihre Suche nicht.
Kuster sammelte in den Neunzigerjahren eine Weile lang als Einziger in der Deutschschweiz Spendersamen und führte damit künstliche Befruchtungen durch. Seine Bilanz: über 500 Kinder – von 50 Spendern. An der Universität und der ETH Zürich hängte er Zettel ans Brett. Und bezahlte gut, sagt er: 500 Franken pro Spende. Seine Motivation: «Ich wollte den Frauen helfen.» Das sagt er nun auch den Spenderkindern, die bei ihm anklopfen und zu hören bekommen: Alle Unterlagen sind weg, durch den Schredder gejagt. Kuster will sein Versprechen halten.
Er setzte damals jeweils Schreiben auf. Schweigeverträge. Die Eltern mussten unterschreiben, dass sie keiner Seele sagen, wie und wo das Kind entstanden ist. Und den Spendern sicherte er schriftlich Anonymität zu. Deshalb gab er seine Samenbank mit der Einführung des Gesetzes 2001 auch auf: Er wollte, dass die Männer unerkannt bleiben können. Heute sagt er, es sei eine andere Zeit gewesen. «Damals dachte man nicht an die Folgen für die Kinder.»
Sie hilft sich selbst
Die Ärzte, die Politik, die Gesellschaft – für Vanessa Widmer denken sie heute noch nicht weiter. Jedes Kind, das ab den Nullerjahren entstand, habe das Recht, seine Herkunft zu kennen. «Warum gilt das nicht für uns? Keiner hilft uns.»
Sie hilft sich selbst. Holt ihr Handy aus der Tasche, zeigt auf Balken mit Zahlen dahinter – das Ergebnis des DNA-Tests MyHeritage. Ihre Herkunft. Sie liest vor: 33,9 Prozent Nord- und Westeuropa, 24 Prozent Irland, Schottland oder Wales, 9,8 Prozent Balkan und – diese Zahl zoomt sie mit zwei Fingern auf dem Bildschirm heran: 32,3 Prozent Italien. Die Spur des Spenders, vermutet sie. Die Haare, die Augen, das mache Sinn, doch fühlt es sich falsch an. «Ich fühle mich nicht wie eine Italienerin.»
Wer bin ich? Von wem stamme ich ab? Den Drang, das zu wissen, tragen auch Adoptivkinder in sich. Die Forschung dazu unterstreicht, wie wichtig es ist, seine genetische Abstammung zu kennen. Wichtig für das Selbstvertrauen. Für die eigene Lebenszufriedenheit.
Vanessa Widmer treibt noch etwas anderes an: Was, wenn sie unwissentlich an einer Party einen Halbbruder kennenlernt – und sich verliebt? Jürg Kuster sagt, er habe das bedacht: Die Mütter mussten jeweils weit voneinander entfernt wohnen. Doch die Schweiz ist kleinräumig. Globalisierung, Internet, ausgebauter öffentlicher Verkehr – in den letzten Jahren ist sie zusammengewachsen.
Daniel Ludwig, der Spender, stellt sich manchmal vor, dass es eines seiner Spermien doch noch ins Ziel geschafft hat. «So ein schwächlicher Kerl, der sich ziert, und paff, wird er durch den Spermakanal gejagt und von einem Ei aufgesogen», sagt er. Doch er weiss: Das ist laut den Ärzten unmöglich.
Vanessa Widmer hofft auf diesen Text. Darauf, dass sich ihr biologischer Vater meldet. Zu ihren Eltern hat sie ein gutes Verhältnis. «Ich könnte mir keine bessere Familie vorstellen.» Was sie sich anders gewünscht hätte: früh aufklären. Damit aufwachsen. «Man sollte an die Kinder denken.»
Jedes Jahr nehmen rund 6000 Frauen eine reproduktionsmedizinische Behandlung in Anspruch. Jedes 40. Kind kommt unter anderem dank künstlicher Befruchtung zur Welt. Die Universität Zürich will nun wissen, wie es solchen Familien geht. Welchen Einfluss die Behandlung auf die Familien hat. Dies im Rahmen der Studie «Start Familie». Dafür sucht sie Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Weitere Infos: www.start-familie.ch.
Jedes Jahr nehmen rund 6000 Frauen eine reproduktionsmedizinische Behandlung in Anspruch. Jedes 40. Kind kommt unter anderem dank künstlicher Befruchtung zur Welt. Die Universität Zürich will nun wissen, wie es solchen Familien geht. Welchen Einfluss die Behandlung auf die Familien hat. Dies im Rahmen der Studie «Start Familie». Dafür sucht sie Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Weitere Infos: www.start-familie.ch.