Das Spermium ist nicht zu beneiden.
525 Milliarden Samenzellen produziert ein Mann von der Geschlechtsreife bis zum Tod ungefähr. 100 Millionen Spermien schwimmen nach dem Sex im Optimalfall Richtung Uterus. Bis zur Eizelle gelangen ein paar Dutzend. Dort scheitern fast alle.
Die aktuelle Geburtenrate in der Schweiz liegt bei 1,46 Kindern pro Frau. Von 525 Milliarden Spermien erreichen nicht mal 2 ihr Ziel.
Die Frage ist, wieso?
Ein Grund ist die Vagina, ein für Spermien «feindlicher Ort», wie die Genfer Biologin Rita Rahban (32) sagt, die an der Universität Genf forscht und der die Schweiz die einzige grosse Studie über die Samenqualität im Land verdankt. Doch das Spermium hat weitaus grössere Herausforderungen als den hohen Säuregrad der Scheidenflora.
Welche das sind, davon soll dieser Text handeln. Grundlage dafür sind ein Dutzend Studien und mehrstündige Gespräche mit Rita Rahban und zwei weiteren Forschern in der Schweiz und in Dänemark. Sie gehören zu den besten ihres Fachs. Doch dieser Artikel handelt ebenso davon, was sie alles nicht wissen. Und wieso sie es nicht wissen. Es ist der vielleicht beunruhigendste Aspekt der ganzen Sache.
Niels E. Skakkebæk (86) ist Professor an der Universität Kopenhagen. 1990 bekam er den Auftrag, ein Institut aufzubauen mit dem Ziel, die männliche Unfruchtbarkeit zu untersuchen – er arbeitet noch immer daran. Er sagt am Telefon: «Wir beobachten ein Phänomen, das unsere Gesellschaft vor eine fundamentale Herausforderung stellt. Aber wir kennen die exakten Gründe dafür nicht. Das macht mir grosse Sorgen.»
Das Phänomen lässt sich verkürzt so beschreiben: In den letzten fünfzig Jahren ist die Geburtenrate in industrialisierten Ländern eingebrochen. In Südkorea bekommen Frauen heute im Schnitt weniger als ein Kind. In Japan 1,3. In der EU 1,5.
Bringt in einem Land eine Frau im Schnitt weniger als 2,1 Kinder zur Welt, beginnt die Bevölkerung irgendwann zu schrumpfen. Mehr als die Hälfte aller Menschen leben in Regionen, wo die Geburtenrate unter der Schwelle liegt, die nötig wäre, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten.
Im Fall der Schweiz sorgt die Zuwanderung dafür, dass das Land trotzdem bald 9 Millionen Einwohner hat. Doch mittelfristig werden wir nicht immer mehr Menschen, sondern weniger. Gemäss einer Studie der Universität Washington erreicht die Weltbevölkerung ab 2064 ihren Höchststand mit 9,7 Milliarden Menschen – und beginnt dann zu schrumpfen.
Es gibt gewichtige soziale und ökonomische Gründe, dass Frauen weniger Kinder haben: Aufklärung, Verhütung. Dank der Gleichstellung arbeiten mehr Frauen, machen Karriere, Paare haben deshalb später Kinder – was das Risiko von Fertilitätsproblemen erhöht, weil die Qualität weiblicher Eizellen ab 35 sinkt.
Dabei geht das Sperma vergessen. Denn Entwicklungsbiologen und Reproduktionsforscher sagen: Die sinkenden Geburtenraten haben auch biologische Gründe. 2022 veröffentlichte ein internationales Forscherteam eine Meta-Studie, in der Daten von 223 wissenschaftlichen Arbeiten verglichen werden. Fazit: Die Spermienkonzentration und die Anzahl der Spermien bei Männern nehmen seit 1973 weltweit ab. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Rückgang nochmals verstärkt.
Die Spermienqualität kann mit einem Spermiogramm gemessen werden. Beim Medizinlabor Viollier, einem der grössten Anbieter der Schweiz, lassen rund 1200 Männer im Jahr ihre Spermien prüfen, Tendenz steigend. Véronique Cottin (53), Leiterin der Kinderwunschabteilung bei Viollier, sagt: «Das Schamgefühl hat stark abgenommen, Männer reden untereinander immer offener über das Thema.» Bei einem Spermiogramm werden unter anderem folgende Kriterien gemessen:
Spermavolumen: Als Referenzwert für die Menge des Samenergusses gelten 1,5 Milliliter. Kein anderes Säugetier produziert so wenig Sperma.
Spermienkonzentration: Gemäss WHO-Norm 16 Millionen Spermien pro Milliliter.
Beweglichkeit der Spermien. Mindestens 30 Prozent müssen sich vorwärtsbewegen.
Form der Spermien: Hier sagt die WHO-Norm, dass mindestens 4 Prozent eine normale Form und keine Missbildungen haben sollen.
Die Spermienqualität kann mit einem Spermiogramm gemessen werden. Beim Medizinlabor Viollier, einem der grössten Anbieter der Schweiz, lassen rund 1200 Männer im Jahr ihre Spermien prüfen, Tendenz steigend. Véronique Cottin (53), Leiterin der Kinderwunschabteilung bei Viollier, sagt: «Das Schamgefühl hat stark abgenommen, Männer reden untereinander immer offener über das Thema.» Bei einem Spermiogramm werden unter anderem folgende Kriterien gemessen:
Spermavolumen: Als Referenzwert für die Menge des Samenergusses gelten 1,5 Milliliter. Kein anderes Säugetier produziert so wenig Sperma.
Spermienkonzentration: Gemäss WHO-Norm 16 Millionen Spermien pro Milliliter.
Beweglichkeit der Spermien. Mindestens 30 Prozent müssen sich vorwärtsbewegen.
Form der Spermien: Hier sagt die WHO-Norm, dass mindestens 4 Prozent eine normale Form und keine Missbildungen haben sollen.
Niels E. Skakkebæk spricht von einer «Epidemie der Unfruchtbarkeit».
Wieso passiert das?
Wir wissen es nicht, aber es gibt Indizien.
Gene der Eltern spielen eine Rolle. Und deren Lebensstil: Rauchen, Trinken und Übergewicht schaden. Bei beiden Geschlechtern. Vor und während der Schwangerschaft. So weit, so allgemein bekannt.
Dann ist da die steigende Zahl von Hodenkrebserkrankungen weltweit. Skakkebæk nennt Hodenkrebs und Unfruchtbarkeit «zwei Seiten derselben Medaille». Speziell hoch ist die Hodenkrebs-Rate in der Schweiz: Bei Männern unter 40 Jahren ist der Hodenkrebs weltweit die häufigste Krebsart.
Und dann gibt es noch die These, die sagt: Die Welt, die uns umgibt, macht uns unfruchtbar. Synthetische Chemikalien, die in industriellen Produkten vorkommen, in Bioziden, Pestiziden und Kosmetika, beeinflussen unser Hormonsystem und beeinflussen unsere natürliche Fähigkeit, uns fortzupflanzen. Für Niels E. Skakkebæk deutet einiges darauf hin: «Wir sind ganz vielen Substanzen ausgesetzt. Aber ich kenne kein einzelnes Molekül, das für die zunehmende Unfruchtbarkeit verantwortlich ist.» Abschliessende Beweise gibt es also keine. Ausser bei Tieren: Dort wurde in Versuchen nachgewiesen, dass Weichmacher, die in Plastik vorkommen, unfruchtbar machen.
Fruchtbarkeitsforschung beim Menschen ist nicht nur hochkomplex, sondern aus ethischen Gründen auch stark limitiert. Sex im Labor, um dem Geheimnis der Befruchtung auf die Spur zu kommen? Unmöglich. Embryonen chemischen Schadstoffen aussetzen, um die Auswirkungen zu beobachten? Nicht mal im Ansatz denkbar.
Was bräuchte es also, um doch Antworten auf die Frage zu finden, wieso wir immer mehr Mühe haben, uns natürlich fortzupflanzen?
Niels Skakkebæk spricht, bevor die Frage fertiggestellt ist: «Wir brauchen gross angelegte Bevölkerungsstudien. Wir müssen mit jenen reden, die in stabilen Beziehung sind und keine Kinder haben. Wieso haben sie es nicht? Weil sie nicht wollen? Weil sie nicht können? Und dann müssten diese Paare über lange Zeit verfolgt und laboratorisch untersucht werden. Wenn die Faktoren identifiziert sind, müssen sie ausgeräumt werden.»
Um das zu tun, fehlt nur eines: Geld. Skakkebæk sagt: «Unsere Finanzierung ist im Vergleich zu anderen Bereichen mikroskopisch!»
Serge Nefs Büro misst etwa vier Quadratmeter. Auf seinem Tisch stapeln sich Klarsichtmäppchen mit wissenschaftlichen Studien. Die Wände sind voll gehängt mit Bildern von Seehunden, Walen, Bergen und einer Karikatur aus einer Westschweizer Zeitung mit dem Titel: «Wieso ist die Fruchtbarkeit von Schweizer Spermien tief?» Sie zeigt einen Schwarm von Spermien auf dem Weg zur Eizelle, eine einzelne Samenzelle hält alle auf und sagt: «Stopp! Wir müssen abstimmen!» Aber mit der direkten Demokratie hat die Unterfinanzierung der Spermienforschung wenig zu tun.
Serge Nef (54) ist Professor für Entwicklungsbiologie und Genetik an der Universität Genf. Zum Stand der Forschung im Bereich der Fruchtbarkeit sagt er: «Manchmal kommt es mir vor, als würden wir mit Feldstechern versuchen, Planeten zu untersuchen.»
Sieben Stockwerke unter Serge Nefs Büro lagern in einem fensterlosen Raum mit 66 Gefriertruhen 17'328 Blut-, Urin- und Samenproben von über 2800 Männern, die an einer von Serge Nef und seiner Kollegin Rita Rahban durchgeführten Studie teilnahmen. Der Verlauf dieser Studie verrät einiges über die Probleme der Forschung zur männlichen Unfruchtbarkeit.
Angerissen hatte sie 2003 die Genfer Stiftung Faber, die sich unter anderem der Erforschung der Unfruchtbarkeit verschrieben hatte. Die Idee war so simpel wie einleuchtend: Vor der Rekrutierung sollten junge Schweizer Männer zwischen 18 und 22 zur Teilnahme an einer landesweiten Studie zur Spermienqualität bewogen werden. Unter anderem finanzierte sie auch der Nationalfonds mit. Die Initianten wollten erreichen, was weltweit bisher noch nie geschafft wurde: eine vergleichende Studie zu Spermien aus allen Regionen eines Landes.
Doch die Umsetzung gestaltete sich als schwierig. Nur gerade drei Prozent der angefragten jungen Männer machten mit. Das Verfahren war lang, kompliziert und teuer. 2015 stieg Rita Rahban als junge Doktorandin ins Projekt ein. Kurz danach ging den Initianten das Geld aus. Sie wandte sich an Serge Nef und die Uni Genf. Serge Nef sagt: «Ich wusste, wir mussten das zu Ende führen. Das Potenzial dieser Studie ist riesig.»
Drei Jahre später hatten Nef und Rahban mit der Unterstützung der ursprünglichen Initiatoren Alfred Senn und Eric Stettler 2523 verwertbare Proben zusammen. 2019 veröffentlichten sie ihre Studie mit dem Titel «Samenqualität von jungen Männern in der Schweiz». Die Resultate sorgten für Schlagzeilen in fast allen Schweizer Zeitungen: Bei fast zwei Dritteln der Untersuchten (62 Prozent) lag mindestens einer der vier Kennwerte für die Spermienqualität unter der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegten Norm. Eine mögliche Folge: Probleme beim Kinderzeugen.
Serge Nef trägt Fäustlinge, die aussehen wie Ofenhandschuhe. Das Lüftungssystem rauscht. Alarme piepsen. Er drückt eine vereiste Kartonschachtel aus einer Metallschublade. Darin befinden sich 55 Plastikröhrchen, jedes gefüllt mit tiefgefrorener Samenflüssigkeit. Um damit zu arbeiten, müssen es Nef und seine Mitarbeiter auftauen. Den Rest gefrieren sie wieder ein. «Wir werfen nichts weg. Das ist zu kostbar», sagt Serge Nef.
Diese biologischen Proben von über 2500 Schweizern sind ein Schatz, der noch nicht vollständig gehoben ist. Im letzten und dieses Jahr erhalten alle Studienteilnehmer, die nun Mitte 30 sind, einen Fragebogen, um herauszufinden, wie sich ihre damalige Spermienqualität auf ihre Fruchtbarkeit auswirkte: Sie sollen Auskunft geben über ihre Gesundheit, ob sie Probleme haben, Nachwuchs zu kriegen. Der Rücklaufquote ist vielversprechend – eine Auswertung steht noch aus. Zusätzlich ist Rita Rahban an einer Arbeit über die Auswirkungen von Handynutzung auf die Qualität der Spermien. Bald soll eine Studie folgen, in der sie gemeinsam mit Geografen die Spermienqualität nach Regionen auswertet – und zwar sehr präzise. In den Kühlschränken lagern also möglicherweise Antworten auf die Frage: Was ist mit unseren Spermien los?
Um weiterzuarbeiten, brauchen die beiden Geld. Und da kriegt Serge Nef schon mal zu hören: «Wo ist das Problem? Wir sind acht Milliarden Menschen, ein paar weniger schaden nicht.» Für die Paare mit unerfülltem Kinderwunsch steht ein ausgewachsener medizinischer Sektor bereit: Für In-vitro-Fertilisationen stehen 35 Zentren zur Verfügung.
Insemination: Ihr geht eine Hormonbehandlung bei der Frau voraus, bei der die Bildung von Eibläschen gefördert und dann der Eisprung ausgelöst wird. Kurz vor dem Eisprung wird ein Konzentrat an beweglichen und normal geformten Samen mit einem Katheter in die Gebärmutter eingeführt.
Chancen: Bei ca. 12 Prozent der Paare erfüllt sich der Kinderwunsch.
Kosten: Die Krankenkasse übernimmt drei Behandlungen pro Paar. Jede weitere kostet rund 1000 Franken.
In-vitro-Fertilisation (IVF): Auch hier muss sich die Frau einer Hormonbehandlung unterziehen, um die Reifung von Eizellen anzuregen. Natürlicherweise produziert eine Frau pro Zyklus eine Eizelle, durch Hormonbehandlung versucht man 10 bis 20 zu gewinnen. Von der Scheide her werden die befruchtungsfähigen Eizellen abgesaugt und im Labor mit den Samenzellen zusammengebracht. Die Befruchtung durch die Samen erfolgt selbständig. Der Embryo wird der Frau nach drei bis fünf Tagen eingesetzt.
Chancen: 25 bis 30 Prozent der behandelten Paare bekommen pro Embryotransfer ein Kind.
Kosten: ca. 8000 Franken. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas nicht von der Krankenkasse gedeckt.
Intracytoplasmatische Spermien-Injektion (ICSI): Funktioniert gleich wie die IVF, nur wird ein einzelner Samen direkt in die Eizelle eingesetzt. Es wird vor allem durchgeführt, wenn die Spermienqualität des Mannes stark eingeschränkt ist.
Chancen: ähnlich wie beim IVF
Kosten: 8000 bis 10'000 Franken.
Insemination: Ihr geht eine Hormonbehandlung bei der Frau voraus, bei der die Bildung von Eibläschen gefördert und dann der Eisprung ausgelöst wird. Kurz vor dem Eisprung wird ein Konzentrat an beweglichen und normal geformten Samen mit einem Katheter in die Gebärmutter eingeführt.
Chancen: Bei ca. 12 Prozent der Paare erfüllt sich der Kinderwunsch.
Kosten: Die Krankenkasse übernimmt drei Behandlungen pro Paar. Jede weitere kostet rund 1000 Franken.
In-vitro-Fertilisation (IVF): Auch hier muss sich die Frau einer Hormonbehandlung unterziehen, um die Reifung von Eizellen anzuregen. Natürlicherweise produziert eine Frau pro Zyklus eine Eizelle, durch Hormonbehandlung versucht man 10 bis 20 zu gewinnen. Von der Scheide her werden die befruchtungsfähigen Eizellen abgesaugt und im Labor mit den Samenzellen zusammengebracht. Die Befruchtung durch die Samen erfolgt selbständig. Der Embryo wird der Frau nach drei bis fünf Tagen eingesetzt.
Chancen: 25 bis 30 Prozent der behandelten Paare bekommen pro Embryotransfer ein Kind.
Kosten: ca. 8000 Franken. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas nicht von der Krankenkasse gedeckt.
Intracytoplasmatische Spermien-Injektion (ICSI): Funktioniert gleich wie die IVF, nur wird ein einzelner Samen direkt in die Eizelle eingesetzt. Es wird vor allem durchgeführt, wenn die Spermienqualität des Mannes stark eingeschränkt ist.
Chancen: ähnlich wie beim IVF
Kosten: 8000 bis 10'000 Franken.
Der Anteil von Kindern, die in der Schweiz dank In-vitro-Fertilisation auf die Welt kommen, liegt bei 2,57 Prozent. Im Jahr 2020 waren es 2068 Kinder und 6000 Frauen in Behandlung. Viele Paare bleiben trotzdem kinderlos.
Dazu kommt eine fundamentalere Frage, die Niels Skakkebæk stellt: «Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn sie sich nicht mehr natürlich fortpflanzen kann?»