Geheimnisse gibt es fast in jeder Familie. Aber das folgende wiegt schwer. Geschwister, die voneinander nichts wussten. Mütter, die gegen ihren Willen «genommen» wurden von einem katholischen Priester. Für die Mütter und die Kinder wurde nie gesorgt. Totschweigen – das konnten alle gut. Gewiss, es waren die Fünfzigerjahre, der Priester galt eine Menge, die Frauen bestimmt nicht so viel. Und ledige Kinder waren generell nicht gerngesehen – erst recht nicht von einem Mann Gottes. Aber der Schaden, den Toni Ebnöther (1919–2011) anrichtete, ist gross. Wie ein Schatten legte er sich über das Leben von Lisbeth, Christine, Tony, Monika, Adrian und Daniela. Und ist bis heute eine Belastung.
Toni war attraktiv. Einen «alpinen Schönling» nennt ihn der Regisseur. Einer, der den Frauen gefallen hat, sagt ein Sohn. Und die Frauen gefielen ihm. Dabei hatte er ihnen doch abgeschworen: Toni Ebnöther wurde zum Priester geweiht. Dabei heisst es, man solle den Samen Gottes in die Herzen der Menschen säen. Doch er säte Nachwuchs. Der junge Vikar wurde immer wieder in eine andere Gemeinde versetzt, es hiess: Er sei zu gesellig.
Irgendwann wurde es dann aber auch dem Bistum Chur zu blöd, und Ebnöther wurde nicht mehr beschäftigt. 1959 kaufte er mit Geld von Bekannten eine Pension im Prättigau GR und war von nun an Wirt. Sein Priestergewand bewahrte er zusammengelegt im Schrank auf. So, als könnte er jederzeit wieder an die Kanzel. 2011 verstarb Ebnöther. Mit seinem Tod kam Licht ins Dunkel.
Im Dokumentarfilm «Unser Vater» sprechen nun seine Kinder. Der Regisseur Miklós Gimes begleitete die Geschwister über sieben Jahre. Wir haben Lisbeth, Monika und Tony besucht und mit ihnen über das gesprochen, was sie am meisten belastet: das Schweigen.
Lisbeth
Mit 30 erfährt Lisbeth, dass ihr Vater gar nicht tot ist, sondern ein katholischer Priester. Ein Mann Gottes, der ihre Mutter vergewaltigt hat. Mit 60 erfährt sie, dass sie fünf Geschwister hat. Heute ist Lisbeth 72. Sie sitzt an ihrem Küchentisch in Dietikon ZH und sagt: «Es gibt noch mehr Geschwister. Das Dutzend wird voll.»
Lügen prägten das Leben der Zürcherin. Aber viel mehr noch: «Warum hat man nie geredet?», fragt sie im Film unter Tränen. Ihre Mutter sagt ihr später: «Ich hatte Angst, dass es verbreitet wird, das wollte ich nicht. Ich hatte gute Eltern, aber strenge.» Nach und nach erhält Lisbeth ein Puzzleteil und kann es einsetzen. Einsetzen in ein Gemälde, das ihr Leben ist. Aber der Reihe nach.
Es ist das Jahr 1949. Antonia, Lisbeths Mutter, arbeitet als Pfarrköchin bei Pfarrer Mundwiler im katholischen Pfarrhaus in Bülach ZH. Bald kommt ein Vikar namens Anton Ebnöther ins Haus. Antonia wird schwanger von ihm. Der Pfarrer meldet den Vorfall bei der Bistumsleitung in Chur, passiert ist nichts. Im Gegenteil: Man schickt die Schwangere in die Klinik St. Maria in Visp VS. Dort bekommen ledige, schwangere Frauen bis zur Geburt eine Anstellung und gebären ihre Kinder dort. Ebnöther gibt ihr 100 Franken, damit sie das Kind wegmachen lässt. «Ich wäre eigentlich zur Adoption freigegeben worden», sagt Lisbeth in ihrer Wohnung. Die Mutter behält das Baby und zieht zu ihren Eltern auf den Bauernhof. Lisbeth erinnert sich: «Ich hatte ein Zimmer mit meiner Mutter. Durfte selten mit Gschpänli abmachen, sondern musste nach der Schule mithelfen. Ich war einfach da, kam mir ab und zu vor wie ein Verdingkind.»
Der Film «Unser Vater» von Miklós Gimes kommt am 6. April ins Kino. Davor gibt es ab dem 2. April eine Reihe von Vorpremieren und Podiumsgesprächen mit den Protagonisten und Gästen in Bern, Chur, Einsiedeln, Thun, Luzern, Zug und Zürich. In Chur etwa wird Bischof Joseph Maria Bonnemain und Karin Iten, Fachfrau zur Prävention von Machtmissbrauch des Bistums, anwesend sein. Regisseur Gimes hörte von einem Kollegen von der Geschichte. Es war Lisbeth Binder (72), die ihre Geschichte erzählte und den Film initiierte. Viel mehr als die Sexualmoral der katholischen Kirche interessierten den Regisseur die Protagonisten, die bereit waren, vor der Kamera über Dinge zu sprechen, die man lieber meidet – über Familienangelegenheiten.
Mehr Infos auf www.unservater.ch
Der Film «Unser Vater» von Miklós Gimes kommt am 6. April ins Kino. Davor gibt es ab dem 2. April eine Reihe von Vorpremieren und Podiumsgesprächen mit den Protagonisten und Gästen in Bern, Chur, Einsiedeln, Thun, Luzern, Zug und Zürich. In Chur etwa wird Bischof Joseph Maria Bonnemain und Karin Iten, Fachfrau zur Prävention von Machtmissbrauch des Bistums, anwesend sein. Regisseur Gimes hörte von einem Kollegen von der Geschichte. Es war Lisbeth Binder (72), die ihre Geschichte erzählte und den Film initiierte. Viel mehr als die Sexualmoral der katholischen Kirche interessierten den Regisseur die Protagonisten, die bereit waren, vor der Kamera über Dinge zu sprechen, die man lieber meidet – über Familienangelegenheiten.
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Mit 30 löchert Lisbeth ihre Mutter mit Fragen, bis sie redet. Für Lisbeth ist klar: Ich will meinen Vater kennenlernen. «Du willst einfach wissen, woher du kommst.» Sie sucht nach Geborgenheit. Beim ersten Treffen begrapscht ihr Vater sie im Auto. Ein Schock. Dennoch entsteht Kontakt.
Als ihr Vater krank wird, erhofft sie sich, am Sterbebett mehr zu erfahren. Sie wusste immer: Da ist noch mehr. Doch was, erfährt sie erst nach seiner Beerdigung 2011. Ebnöthers Frau Ruth ruft sie an und erzählt ihr von Monika. Eine weitere Tochter von Ebnöther. Lisbeths Schwester. «Da brauchte ich vier, fünf Monate, um das zu verdauen.»
2016 stirbt Lisbeths Mutter. 100-jährig. Kurz vor ihrem Tod kommt ein weiteres Geheimnis ans Licht: Ihre Mutter wurde von Ebnöther vergewaltigt. Das konnte sie ihrer Tochter in all den Jahren nicht sagen. Erst dem Regisseur des Films. Lisbeth sitzt daneben. «Ich dachte immer, dass meine Mutter ihn gerne hatte. Mich traf der Schlag.»
Diese Offenbarung spaltet Lisbeths Verhältnis zur katholischen Kirche. Sie, die ein Leben lang aktiv in der Kirchengemeinde war. «Das Bistum Chur hat stets von seinen Machenschaften gewusst. Nach den Frauen und Müttern wurde nie gefragt. Sie wurden auch nicht unterstützt. Meine Mutter erhielt nie einen Rappen», schreibt Lisbeth 2016 in einem Brief an die Schweizer Bischofskonferenz in Freiburg. Auf die Frage, warum sie den Film initiiert hat, antwortet sie: «Diese Verlogenheit, sie muss endlich aufhören.»
Monika
Monika ist aufgeregt. Draussen schneit es wie verrückt. Es ist der 11. Dezember 2011, ihr Vater, Toni Ebnöther, wird an diesem Tag begraben. «Ich wusste immer, seine Beerdigung ist der Schlüssel. Der Schlüssel zum Aufdecken», sagt Monika im Wohnzimmer des Bauernhauses ihres Partners im Tösstal. Sie will diesen Schatten wegkriegen. Ein Schatten, der sie seit ihrer Kindheit umgibt. Monika setzt sich in die erste Kirchenbank. Eine Angehörige sagt ihr, sie solle sich in eine andere Bank setzen, das seien die Plätze für die Familie. «Ich bin die Tochter von Toni. Ich sitze hier», sagt Monika. Sie hält es schier nicht aus, als der Lebenslauf ihres Vaters vorgetragen wird. Der Toni, ein geselliger, der versetzt wurde, weil er zu viel Musik machte. Kein Wort über die schwangeren Frauen. Kein Wort über seine Kinder. Ständig überlegt sie sich, ans Mikrofon zu gehen. «Aber ich wollte ja keinen Schaden anrichten», sagt sie heute. «Bloss Aufklärung.» Den Schatten wegkriegen.
In der Kirche und beim Traueressen klappert sie die Anwesenden ab und fragte: «Bist du verwandt mit dem Toni?» Im Verlauf eines Jahrs findet sie ihre fünf Geschwister und bringt sie zusammen. Als bei einem der ersten gemeinsamen Treffen in Nendaz VS Tony, der älteste Bruder, dazustösst, kann es Monika kaum fassen. Sie fällt ihm um den Hals. «Endlich, ein grosser Bruder! Du bist dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.»
Monika ist die Einzige, die ihren Vater bereits als Kind trifft. Und das kam so: Monika lebt im Kinderheim. Mit ihrer Mutter, denn die arbeitet im Heim. Es sei wie eine Insel gewesen. Ohne Männer. Ohne Väter. Sie fragt sich gar nie, was ein Vater ist. Als sie etwa zehn ist, fährt ihre Mutter mit ihr nach Saas im Prättigau. Sie besuchen Toni. Monikas Vater. Er wirtet dort seit 1959 in seiner Pension Sunneschy. Auf dem Heimweg erzählt ihr die Mutter, wer der Mann ist.
«Er hat mir ein Mars und ein Kägifret geschenkt», sagt Monika und lacht. Man kommt immer wieder in die Pension. Dass sie die Tochter ist, verrät sie keinem. «Es war ein Geheimnis.» Einerseits ist das Mädchen furchtbar stolz, andererseits isoliert. «Es ist immer ein Schleier über allem gelegen.»
Ihre Mutter und Ebnöther lernten sich im Kirchenchor kennen. Er dirigierte und war 39, sie sang und war 20. Im Film schildert die Mutter die Begegnung so: «Ich war Blauring-Führerin und musste hin und wieder etwas mit ihm besprechen. So war ich auch in seiner Wohnung im Pfarrhaus. Es war ganz komisch. Er sagte: ‹Komm ein bisschen ins Bett. Dann haben wir wärmer.› Dann legte ich mich halt hin. Er zog mir die Hosen aus. Ich wusste nicht, was passiert. Er fing einfach an. Er ist in mich rein – das tat höllisch weh. Ich sagte: ‹Hör auf, es tut weh.› Dann sagte er: ‹Nicht lange. Es tut dir nachher gut.› Dann zog ich mich an und ging. Ich war halt blöd.»
Heiraten, so hörte es Monika, will ihre Mutter ihn nicht. Der Ebnöther könne nicht treu sein. 300 Franken gibt er ihr. Aber abtreiben möchte sie nicht. Sie kauft Wolle und lismet fürs Baby. Ihre Mutter habe nie ein schlechtes Wort gegenüber dem Ebnöther verloren.
Monika glaubt, dass der Film etwas Gutes bewirken kann. Es gebe überall Familienschicksale. Die Frage sei, was man daraus mache.
Tony
«Monika fiel mir um den Hals. Da stellten sich mir schon alle Nackenhaare auf», sagt Tony Meier an einem Morgen in seinem Haus in Eglisau ZH. Er wohnt im obersten Stock mit seinen Katzen. Unten leben seine Ex-Frau und seine Tochter. Dazu aber etwas später. «Ich kannte diese Frau doch gar nicht.» Er meint seine Schwester Monika. Beim ersten Treffen mit den Geschwistern fühlt sich Tony «komisch». Er ist auch der Einzige, der nicht über Nacht bleibt.
Tony hat Mühe mit Beziehungen. Mühe, Menschen zu vertrauen. Er ist sich sicher, das liegt an seiner Familiengeschichte. An diesen Lügen. Einen Groll hegt er gegen seine Mutter. Im Film und auch an diesem Morgen in Eglisau wird klar, er gibt ihr die Schuld. «Sie holte Ebnöther», sagt der 70-Jährige. Er hätte gehört, dass es damals Wetten gab: Wer bringt den Pfaffen ins Bett? Sie sei die Dominante gewesen und sei nicht sexuell belästigt worden wie die anderen. «Todsicher», sagen die beiden Geschwister im Film. Die Mutter wird zweimal von Ebnöther schwanger. Erst mit Christine (1952), dann mit Tony (1953). Sie gab ihrem Sohn sogar den Namen des Kindesvaters. Ihr Ehemann, Karl, wusste von nichts. Er glaubte bis zum Schluss, die zwei Kinder wären von ihm. «Kuckuckskinder» nennen sich die Geschwister im Film.
«Wir haben die Liebe der Mutter vermisst, wir waren auf eine Art Produkte», sagt Christine. «Sie musste also mit beiden Männern zur gleichen Zeit schlafen», sagt Tony in seiner Küche und schüttelt den Kopf. Die Mutter sagt es der Tochter, dem Sohn nicht. Der sei zu sensibel. Mit 28 Jahren erfährt es Tony. Er fühlte immer: Irgendwas ist komisch. Ihm fielen Situationen ein, Dinge wurden plötzlich klar. So auch, weshalb der Priester immer wieder aufkreuzte. Als Tony sechs Jahre alt war, kommt er an Weihnachten und drückt die Hand des Jungen so fest, dass Tony den Schmerz heute noch fühlt. «Er konnte mich ja nicht in die Arme nehmen», sagt der 70-Jährige heute. Man sei auch hin und wieder ins Bündnerland zu ihm ins Wirtshaus. Pommes und Güggeli darf das Kind bestellen.
Als er von seinem Vater erfährt, vertraut er sich seiner damaligen Freundin und späteren Frau Ruth an. Dann erzählt Tony, er habe seine Frau so weit getrieben, sich mit einem anderen Mann einzulassen. Ruth betrügt ihn und wird schwanger. Die Geschichte der Eltern wiederholt sich. «Ich weine heute noch, wenn ich darüber nachdenke, was ich dieser Frau angetan habe.» Die Tochter erziehen sie gemeinsam, aber die Ehe hält nicht. Dennoch ist das Verhältnis sehr gut, die Familie lebt heute zusammen in einem Haus.
«Die Menschheit chachsch chübla», sagt Tony. Er weint nun. Er könne keine Beziehungen aufbauen. Da sei immer diese Schutzmauer. Da bleibe er lieber allein. Auch mit seiner Schwester Christine habe er gebrochen. Bei den Premieren und Podiumsdiskussionen zum Film wird er auf sie treffen. Hingehen wird er trotzdem. Denn der Film, so seine Hoffnung, soll ein paar Menschen dazu bringen, mehr Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen.