Brisantes Mandat aus Strassburg
FDP-Nationalrat untersucht Kriegsverbrechen in der Ukraine

FDP-Fraktionschef Damien Cottier wird für den Europarat nach Hinweisen auf Menschenrechtsverstösse fahnden. Seine Erkenntnisse könnten in ein internationales Straftribunal einfliessen.
Publiziert: 08.05.2022 um 00:37 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2022 um 18:32 Uhr
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Steht vor einer heiklen Aufgabe: FDP-Nationalrat Damien Cottier.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Die Ukraine-Reise von Nationalratspräsidentin Irène Kälin (35) und drei ihrer Ratskollegen hat landesweit zu reden gegeben. Und eine Debatte über Sinn und Unsinn des Besuchs ausgelöst. Fernab der Blitzlichter bereitet sich nun ein weiterer Schweizer Bundesparlamentarier auf eine Reise in das kriegsversehrte Land vor.

Nationalrat Damien Cottier (47) wird keinen Medientross dabeihaben – dafür ist seine Mission um einiges brisanter. Cottier führt zuhanden des Europarats und dessen Mitgliedstaaten eine Untersuchung der mutmasslichen Menschenrechtsverletzungen in Kiew und Umgebung durch.

Im Bundeshaus präsidiert der Neuenburger die FDP-Fraktion. In Strassburg leitet er die Schweizer Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, dem gesetzgebenden Organ der Europäischen Menschenrechtskonvention. Vor allem aber, und das ist in diesem Fall ausschlaggebend, sitzt er als «Chairperson» dem Ausschuss für Recht und Menschenrechte vor («Committee on Legal Affairs and Human Rights»).

Cottier erklärt auf Anfrage, dass sein Mandat eine «Fact Finding Mission» einschliesse, das Sammeln und Dokumentieren mutmasslich russischer Gräueltaten. Dazu gehören Gespräche mit mutmasslichen Opfern und lokalen Behörden. Die Erkenntnisse sollen dann in einem Bericht festgehalten werden.

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Eine eher kleine Delegation

«Das Committee hat bei seiner Sitzung letzte Woche die Massnahme einstimmig beschlossen», sagt der Parlamentarier. Für die Kiew-Visite hat das 86-köpfige Gremium eigens die Bildung einer Subkommission beschlossen. Welche Abgeordneten und Stabsmitarbeiter dabei sein werden, ist noch offen. Es werde eine eher «kleine Delegation» sein, so Cottier. Auch die Reisedaten stehen noch nicht fest. Doch der Entscheid ist gefällt. Und Cottiers Teilnahme gilt als gesichert: Er ist als Vorsitzender des Plenarausschusses von Amts wegen Mitglied der Ad-hoc-Subkommission.

Was der Freisinnige betont: «Es geht nicht darum, jetzt so schnell wie möglich in die Ukraine zu reisen. Entscheidend sind der richtige Zeitpunkt und die gründliche Vorbereitung der Delegation.»

Das Vorhaben des Schweizers ist ein politischer Drahtseilakt: Das Parlament des Europarats fordert mit einstimmigem Beschluss vom 28. April die Einrichtung eines internationalen Ad-hoc-Straftribunals zur Verfolgung des möglichen Völkerrechtsverbrechens eines Angriffskriegs («Crime of Aggression») durch die russische Staats- und Militärführung.

In der entsprechenden Mitteilung ist von «möglichen Synergien» mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Rede; das Tribunal soll befugt sein, internationale Haftbefehle auszustellen.

Es ist also nicht auszuschliessen, dass ein solches Gericht künftig sein Urteil auch aufgrund der Erkenntnisse eines Abgesandten aus der neutralen Schweiz fällen wird.

Empfindliche Russen

Dass die Russen äusserst empfindlich reagieren, haben sie mehrfach bewiesen. Nach Übernahme der EU-Sanktionen schikanierte der Kreml die russische Niederlassung eines Schweizer Uhrenunternehmens. Am 16. März wurde die Russische Föderation aus dem Europarat ausgeschlossen – mit grellen Misstönen. Strassburg lasse sich von der Nato und den Amerikanern instrumentalisieren, schimpfte Aussenminister Sergei Lawrow (72).

Die Aufklärer werden vor einer Mammutaufgabe stehen, wie sich bereits auf jähe Weise gezeigt hat. Kaum zu ertragende Berichte von Verschleppungen, Folterungen, Vergewaltigungen und Erschiessungen schocken täglich die Welt. Die Bilder der Leichen auf den Strassen von Butscha, von Eltern, die ihre Kinder begraben, und von zerbombten Wohnhäusern haben sich ins Gedächtnis eingebrannt.

Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa (43) hat jüngst mitgeteilt, dass ihre Behörde in über 8000 Fällen von mutmasslichen Kriegsverbrechen ermittle.

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Damien Cottier und seine Entourage werden in einem hochdramatischen Umfeld agieren müssen. Auch politisch wird die Ermittlungstätigkeit nicht ohne Risiko sein – das gilt für die Eidgenossenschaft insgesamt.

Neben Cottier sind weitere Schweizer Europaratsdelegierte mit Mandaten im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ausgestattet, allen voran SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez (64) und SVP-Kollege Alfred Heer (60).

Letzterer sagte vor kurzem im Interview mit SonntagsBlick auf die Frage, ob auch er hinreisen werde: «Es ist vorgesehen, dass ich als Berichterstatter für die Parlamentarische Versammlung des Europarates in die Ukraine reisen werde.» Aber es brauche einen klaren Auftrag «und keinen Katastrophentourismus». Den Besuch des FDP-Mannes wird er damit nicht gemeint haben.

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