Reger Verkehr auf den Strassen von Lyss BE. Leute tragen Einkaufstüten herum oder vergnügen sich auf Restaurant-Terrassen. Dennoch wirkt der Ort mit zwei Autobahnanschlüssen und drei Bahnhöfen eher ländlich. «Wir sind attraktiv und haben das Gesamtpaket», sagt Gemeindepräsident Andreas Hegg (63) zu Blick.
Zahlreiche Unternehmen wie beispielsweise der Präzisionsteile-Hersteller SPT Roth AG bieten laut Hegg insgesamt über 8000 Menschen einen Arbeitsplatz. Innert acht Minuten ist man mit dem Zug in Biel BE, 18 Minuten braucht der ÖV bis nach Bern. Man könnte also sagen: Lyss ist der Inbegriff von Agglomeration – und genau in dieser Lebensform leben die meisten Menschen in der Schweiz. Im Rahmen der Sommerserie hat Blick Bewohnern von Lyss über die Faszination «Agglo» gesprochen.
Grüne Oase mitten im Zentrum
Die pensionierte Schaufensterdekorateurin Jrène Reichen (66) wohnt sehr zentral: Doch sobald man das schmiedeeiserne Tor öffnet und ihren Garten betritt, ist der Lärm der stark befahrenen Hauptstrasse verschwunden. Lagotto-Rüde Pino (6) bellt und tollt herum. «Ich liebe mein grünes Fleckchen mitten im Zentrum», meint die adrette Dame, deren Herz an dem Vorort hängt. «Ich bin im Nachbarort Aarberg geboren, und direkt gegenüber von meiner jetzigen Wohnung ist mein Elternhaus», sagt sie und blättert durch ihre alten Fotos. «Meine Eltern hatten im Parterre eine Konditorei mit einem Tearoom. Mein Vater politisierte auch, daher waren wir im Dorf seit jeher gut vernetzt.»
Auch ein prominenter Spitzenkoch lebt in Lyss
Mittlerweile hätten die vier Geschwister das Haus jedoch verkauft – und es sei viel passiert. Doch eine Konstante habe es im Leben der ehemaligen Inhaberin einer Design-Firma immer gegeben: Lyss. Nur wenige Jahre habe sie anderswo verbracht. «Es hat mich immer wieder hierher gezogen, hier ist es einfach toll. Wir haben alles, was man für ein gutes Leben braucht. Trotzdem ist es nicht so hektisch und laut wie in der Stadt», sagt sie. «Man sollte zwar niemals nie sagen, aber mich bringen keine 100 Pferde mehr hier weg.»
Der Apfel scheint nicht weit vom Stamm zu fallen: Auch ihre beiden Kinder hat es zurück in den 15'800-Seelen-Ort verschlagen. Die Tochter beruflich, und ihr Sohn – der berühmte Spitzenkoch Ivo Adam (43) – hat sich in der Gemeinde sogar den Traum vom Eigenheim erfüllt.
Von der Stadt in die Agglomeration
Gegenüber Blick sagt er: «Wir haben die letzten Jahre in der Stadt Bern verbracht und wollten, dass unser Sohn in einem etwas ländlicheren Ort zur Schule gehen kann.» Lyss sei dafür perfekt: Der Kleine müsse auf seinem Schulweg weniger gefährliche Strassen überqueren, dennoch habe der Vorort in Sachen Freizeit viel zu bieten.
Das findet auch Alessia Mutti (22). Sie ist zusammen mit ihrem Partner Joel Röthlisberger (26) erst vor anderthalb Jahren hergezogen. Das Paar hat sich vor allem aus praktischen Gründen auf Lyss geeinigt, so die gelernte Kauffrau: «Damals habe ich sogar noch auf der Gemeinde in Lyss gearbeitet, und mein Freund spielt hier Eishockey. Daher war für uns der Fall schnell klar.»
Aufgewachsen ist Mutti als Stadtkind in Biel – dennoch vermisse sie im Vorort nichts: «Uns gefällt es hier sehr. Es gibt tolle Restaurants und gute Einkaufsmöglichkeiten. Man fühlt sich fast wie in der Stadt und lebt doch eher ländlich.»
Stadt oder Dorf?
In der Schweiz galt früher, dass ein Ort sich erst mit mehr als 10'000 Einwohnern Stadt nennen darf. Diese Regelung gibt es so heutzutage nicht mehr, die Kriterien sind nun vielfältiger und eine eindeutige Definition schwieriger. Das Oberhaupt von Lyss sagt, für ihn sei es eher ein Dorf mit Stadtcharakter – abschliessend geklärt sei die Frage aber nicht: «Wir sprechen oft von Lyss als Regionalzentrum. Aber ich betitle mich selbst beispielsweise auch als Gemeinde- und nicht als Stadtpräsident.»
Für Alessia Mutti ist Lyss eher eine Stadt – doch diese Aussage würden längst nicht alle mit ihr teilen. Lächelnd erklärt Mutti: «Die Lysser sind sehr stolz auf ihre Dorfmentalität und legen viel Wert darauf, diese zu erhalten.»