Es geschieht im Bus, am Arbeitsplatz, in der Schule: Diskriminierung gehört in der Schweiz zum Alltag. Das ist die schlechte Nachricht. Es gibt aber auch eine gute: Die Bereitschaft, dagegen vorzugehen, steigt.
Dem SonntagsBlick liegt ein noch unveröffentlichter Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und der Organisation humanrights.ch vor, gemäss dem Beratungsstellen im vergangenen Jahr 708 Fälle von Diskriminierung meldeten – so viele wie nie zuvor. Viele Betroffene suchen keine professionelle Hilfe, bleiben also unbekannt.
Die Zahlen steigen seit Jahren (2020: 572 Fälle, 2021: 630). Das bedeutet aber nicht zwingend, dass Rassismus in der Schweiz zunimmt. «Wir gehen davon aus, dass sich aufgrund der zunehmenden Sensibilisierung auf das Thema sowohl Betroffene als auch Zeuginnen und Zeugen von Vorfällen vermehrt an Beratungsstellen wenden», sagt EKR-Präsidentin Martine Brunschwig Graf (73).
Am häufigsten diskriminiert wurde laut dem Bericht am Arbeitsplatz (133 Fälle) und im Bildungsbereich (116 Fälle). Vor allem Schulen setzen sich aktiver als früher mit Rassismus auseinander und melden entsprechende Vorfälle, sagt Gina Vega (42), Leiterin des Beratungsnetzes für Rassismusopfer bei humanrights.ch – so etwa eine Schulleitung, die sich im letzten Jahr Unterstützung bei einer Beratungsstelle holte, nachdem Jugendliche in einer Klasse rassistisch beleidigt wurden und Schüler auf der Toilette rechtsextreme Symbole aus WC-Papier geformt hatten.
Ärztin erlebte Rassismus durch Kollegen
Rassismus an Schulen beschäftigt die EKR schon länger. «Die Schule ist der Ort par excellence, an dem Rassismus und Diskriminierung bekämpft werden müssen», sagt Brunschwig Graf. Es sei daher wichtig, dass Lehrpersonen noch stärker für die Problematik sensibilisiert werden. «Bildungsinstitutionen müssen Orte bereitstellen, wo Betroffene ein offenes Ohr und Unterstützung finden.» Darüber hinaus habe die EKR beschlossen, eine schweizweite Analyse von Schulbüchern im Hinblick auf die Behandlung von Rassismus zu lancieren.
Am häufigsten von Diskriminierung betroffen waren 2022 wie in den Jahren zuvor Schwarze – in 276 Fällen. So wandte sich eine Ärztin an eine Beratungsstelle, weil ihr rassistische Kommentare ihrer Arbeitskollegen auffielen.
91-mal richteten sich die Übergriffe gegen Muslime und Menschen aus dem arabischen Raum. Zum Beispiel, als ein Beamter eine muslimische Frau mit Schweizer Pass im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens ihres Mannes an einer Videokonferenz aufforderte, ihr Kopftuch abzulegen und anschliessend Bemerkungen über ihr Aussehen von sich gab.
40 der gemeldeten Fälle betrafen Personen aus dem asiatischen Raum. Als antisemitisch stuft der Bund 21 der Ereignisse ein. Immerhin: Meist blieb es bei Drohungen, Beschimpfungen oder schwerer Benachteiligung. In 56 Fällen kam es aber auch zu körperlicher Gewalt – zweimal waren dabei sogar Waffen im Spiel.
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Unbewusste Haltungen, unsichtbare Strukturen
Laut den Autorinnen und Autoren des Berichts sind es aber viel eher unbewusste Haltungen und unsichtbare Strukturen, die Menschen benachteiligen. «Rassismus ist nicht nur ein zwischenmenschliches Problem», betont Brunschwig Graf. «Unsere Institutionen und unsere alltäglichen Handlungen sind teilweise von diskriminierenden Vorannahmen geprägt, ohne dass überhaupt die Absicht besteht, rassistisch zu handeln.»
Sowohl die Rassismuskommission als auch humanrights.ch wünschen sich mehr Entschlossenheit im Kampf gegen Diskriminierung. Und konkrete Massnahmen. Gina Vega fordert von der Politik eine Verbesserung des zivilrechtlichen Diskriminierungsschutzes: «Rassistische Äusserungen und Taten müssen Konsequenzen haben.»
In der Pflicht stünden aber auch Arbeitgeber, Institutionen und Verwaltungsstellen. Diese müssten Gegenmassnahmen gegen Praktiken ergreifen, die rassistische Diskriminierung begünstigen.
Psychosoziale Beratungen nötig
Die Zunahme der Fälle geht einher mit einem Mehraufwand für die Beratungsstellen. «Eine unserer grossen Sorgen ist die Finanzierung von Angeboten», so EKR-Präsidentin Brunschwig Graf. Komme hinzu: Die Fälle werden nicht nur häufiger, sondern auch komplizierter. Oft seien zudem psychosoziale Beratungen nötig.
Gina Vega von humanrights.ch sagt: «Bund und Kantone stehen in der Verantwortung, die Beratungsstellen nachhaltig mit genügend finanziellen Mitteln auszustatten.» Nur so könnten die Stellen ihre Aufgaben professionell ausführen.