Mitten in der Corona-Krise plant SP-Gesundheitsminister Alain Berset (48) im Gesundheitswesen eine kleine Revolution: Die freie Arztwahl soll praktisch fallen. Das ist nur eine von mehreren Massnahmen, mit welchen der Bundesrat die steigenden Gesundheitskosten und damit die Prämienbelastung dämpfen will. Seit 1996 sind die Kosten in der Grundversicherung von 12 auf 33 Milliarden Franken gestiegen. Mit seinem neuen Massnahmenpaket will Berset rund eine Milliarde Franken einsparen – das entspricht 3 Prämienprozent.
Ein wichtiges Gebot ist die Koordination. Für die Patienten bedeutet dies aber die gewichtigste Änderung: Künftig geht es zuerst zum Erstberater. Wer gesundheitliche Probleme hat, muss sich zuerst an eine Erstberatungsstelle wenden. Das kann der Hausarzt, eine HMO-Praxis oder ein telemedizinisches Zentrum sein. Diese beraten die Patienten und entscheiden, ob eine weitere Untersuchung oder Behandlung notwendig ist. Sie behandeln die Patienten gleich selbst oder weisen sie einem Spezialisten zu.
Berset sieht «keine Einschränkung»
Die freie Arztwahl wird damit beschränkt! Man kann zwar die Erstberatungsstelle selber wählen, muss diese aber als erste Anlaufstelle nutzen. Wer lieber direkt zum Spezialisten geht, muss dies aus der eigenen Tasche berappen. Berset selbst mochte das aber nicht so eng sehen: «Es ist keine Einschränkung der freien Arztwahl. Es ist ein voller Zugang, aber besser organisiert», redet er die Veränderung klein.
Er verweist dabei auch auf die Entwicklung der letzten Jahre, in welchen sich ständig mehr Versicherte für ein ei Rabattmodell – etwa ein Hausarzt- oder Telmed-Modell – entschieden haben. Und so tiefere Prämien zahlen mussten. Gut 70 Prozent der Versicherten wählen Alternativmodelle. «Sie haben sich bewährt und sind breit akzeptiert», so Berset. Damit könnten Doppelspurigkeiten und unnötige Behandlungen vermieden werden.
Im Schnitt liegen die Kosten um 14 Prozent tiefer als bei Normalversicherten. Berset will also vor allem jene an die Kandare nehmen, die wegen jeder Kleinigkeit zum Spezialisten rennen und dabei hohe Kosten verursachen.
Nur: 2012 war ein ähnliches Managed-Care-Modell in der Volksabstimmung mit 76 Prozent Nein gescheitert. Damals war Berset gerade frisch im Amt. Jetzt wagt er einen neuen Anlauf. Die Kernidee von damals, eine verbesserte Koordination und mehr Effizienz, sei unbestritten, meint Berset. «Es handelt sich um vernünftige Massnahmen.»
Allerdings scheint der Ausgang offen, denn das Erstberater-Modell kommt den heutigen Alternativangeboten in die Quere. Bei letzteren dürften die Prämienrabatte künftig tiefer ausfallen. Wird also abgestraft, wer heute schon auf mehr Eigenverantwortung setzt. Solche Bedenken versuchte BAG-Direktor Pascal Strupler zu zerstreuen. Unter dem Strich würden alle von der Kostendämpfung profitieren.
Ärzte-Netzwerke stärken
Weiter will der Bundesrat Netzwerke zur koordinierten Versorgung stärken. In solchen Netzwerken sollen sich Fachleute aus unterschiedlichen Gesundheitsberufen zusammenschliessen und medizinische Betreuung aus einer Hand an anbieten. Davon sollen insbesondere Patienten mit mehreren chronischen Krankheiten wie Diabetes, Herzleiden und Arthrose profitieren. «Sie werden über die gesamte Versorgungskette professionell begleitet», schreibt der Bundesrat in einer Mitteilung.
Schliesslich plant der Bundesrat auch «koordinierte Programme», mit welchen er über den ganzen Behandlungsprozess eine verbesserte und effizientere Versorgung erreichen will. Zum Beispiel für einzelne chronische Krankheiten wie Diabetes oder für Präventionsprogramme gegen Darmkrebs. Der Bundesrat will regeln, unter welchen Bedingungen die Kosten für solche Patientensteuerungsprogramme übernommen werden.
Mit Kostenziel gegen CVP-Initiative
Als weitere zentrale Massnahme will der Bundesrat für die obligatorische Krankenpflegeversicherung eine Zielvorgabe einführen – ein Kostendeckel! Dabei legen Bund und Kantone jährlich fest, wie stark die Kosten wachsen dürfen – zum Beispiel bei den stationären Spitalbehandlungen, den ambulanten Arztbehandlungen oder den Arzneimitteln.
Die wichtigsten Akteure sollen dabei miteinbezogen werden. Sie bestimmen in erster Linie, welche Massnahmen zu ergreifen sind, wenn die Vorgaben überschritten werden. Allerdings ist noch offen, ob bei einer Kostenüberschreitung zwingend Gegenmassnahmen ergriffen werden müssen oder diese freiwillig sind.
Das Kostenziel dient als indirekter Gegenvorschlag zur «Kostenbremse-Initiative» der CVP. Diese reagiert aber unzufrieden. «So wird die Kostenexplosion nicht gestoppt»,kritisiert die Partei in einer Medienmitteilung. Und: «Die darin vorgesehenen Zielvorgaben – insbesondere in einer freiwilligen Scheinlösung mit der Kann-Formulierung – werden nicht ausreichen, um die Kosten endlich in den Griff zu bekommen.»
Zugang zu teuren Arzneimitteln
Schliesslich will der Bundesrat «einen raschen und möglichst kostengünstigen Zugang» zu innovativen, teuren Arzneimitteln sichern. Dazu soll die bereits bestehende Praxis von Vereinbarungen mit Pharmaunternehmen, sogenannte Preismodelle, auf Gesetzesstufe gefestigt werden.
Dabei müssten Pharmaunternehmen einen Teil der Kosten an die Versicherer zurückerstatten, betont die Regierung. «Es werden insbesondere Preismodelle mit Rückerstattungen auf den Preis, auf Umsatzvolumen oder aufgrund fehlender Wirkung festgelegt.»
Das Paket umfasst noch weitere Massnahmen: die differenzierte Prüfung der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln, Analysen sowie Mittel- und Gegenständen, die Einführung von fairen Referenztarifen, um den Wettbewerb unter den Spitälern sicherzustellen sowie die Verpflichtung, Rechnungen elektronisch nach einheitlichen Standards zu übermitteln.
Weiterer Teil des Kostendämpfungsprogramms
Der Bundesrat hat im März 2018 ein Kostendämpfungsprogramm verabschiedet, das zwei Gesetzgebungspakete beinhaltet. Das erste Paket wird derzeit im Parlament diskutiert und beinhaltet unter anderem die Einführung eines Experimentierartikels, die Schaffung einer nationalen Tariforganisation und ein Referenzpreissystem für patentabgelaufene Arzneimittel. Das Sparpotenzial beträgt mehrere Hundert Millionen Franken.
Das neue, zweite Paket geht nun bis am 19. November in der Vernehmlassung.