Die Lage sei kritisch, denn die hohen Fallzahlen könnten trotz Impfung zu einem Anstieg der Hospitalisierungen führen, warnte Gesundheitsminister Alain Berset (49) am Mittwoch. Nationale Massnahmen mochte der Bundesrat aber nicht ergreifen. Stattdessen mahnte Berset die Kantone, bei Bedarf die Schutzmassnahmen zu verschärfen. «Jeder Kanton muss für sich schauen, weil jeder seine Bevölkerung am besten kennt.»
Die Landesregierung sieht die Kantone in der Pflicht. Und nun liest auch Bundespräsident Guy Parmelin (62) den Kantonen die Leviten – in einem vierseitigen Schreiben, wie der «Tagesanzeiger» berichtet.
Kantone sollen sich wappnen
Auch der SVP-Magistrat schildert die Lage als «kritisch». Obwohl die Spitäler derzeit nicht stark belastet seien, könne sich das «jederzeit und sehr rasch» ändern, «wie zuletzt in unseren Nachbarländern zu beobachten war». Die Delta-Variante führe zu schwereren Krankheitsverläufen als alle bisherigen Varianten. Das bedeute, dass ungeimpfte Personen nach einer Infektion «öfter und länger intensivmedizinisch betreut werden müssen».
Die Kantone müssten sich wappnen und das Gesundheitssystem auf eine erneute hohe Belastung vorbereiten, so Parmelins Appell. So müssten etwa auch Privatspitäler, freischaffende Anästhesisten sowie Fachpersonen aus den ambulanten Operationszentren in die Behandlung der Corona-Patienten eingebunden werden. «Auch die Verschiebung von nicht dringlichen Eingriffen muss sorgfältig vorbereitet werden», betont Parmelin.
Bundesrat befürchtet Ärger
Trotz drastischer Worte macht der Bundespräsident klar, dass die Landesregierung selbst vorerst nichts unternehmen will, um die Entwicklung zu stoppen. Schweizweite Massnahmen will der Bundesrat erst in die Konsultation schicken, wenn die «Kantone ihrerseits alle Massnahmen ergriffen haben und ihre Möglichkeiten erschöpft sind, die negative Entwicklung zu stoppen».
Der Grund dafür sind die grossen regionalen Unterschiede. Der Bundesrat fürchtet den Ärger jener, welche mit einer hohen Durchimpfung ihre Hausaufgaben quasi gemacht haben. Er will auch die Solidarität zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht noch mehr strapazieren. Ärger befürchtet der Bundesrat auch für den Fall, dass Kantone mit tiefer Impfquote wegen Spitalüberlastung plötzlich Covid-Patienten in andere Kantone verlegen müssen.
Parmelin drängt die Kantone mit hohen Fallzahlen deshalb auf ein rasches Handeln – in verschiedenen Kantonen seien «rasch Massnahmen zur Kontaktreduktion angezeigt». Das heisst etwa erweiterte Masken- und Zertifikatspflicht bis hin zu Veranstaltungsbeschränkungen.
Einige Kantone haben den Ruf nicht nur gehört, sondern auch erhört – und verschärfen die Massnahmen. So setzen mehrere Kantone wieder auf eine Maskenpflicht an Schulen oder eine Zertifikatspflicht für Altersheimbesucher.
Kantone fordern Bund zum Handeln auf
Die Gesundheitsdirektorinnen hätten das Schreiben von Bundespräsident Guy Parmelin zur Kenntnis genommen, hält die Gesundheitsdirektoren-Konferenz in einer Medienmitteilung fest. Sie seien «entschlossen, ihre Verantwortung wahrzunehmen».
Gleichzeitig rufen sie den Bundesrat auf, «seinerseits ebenfalls diejenigen Massnahmen zu ergreifen, die zur Bewältigung der schweizweit problematischen Lage auf Bundesebene notwendig sind». In Frage kämen etwa «eine nationale Ausweitung der Maskenpflicht primär in Innenräumen, vermehrtes Homeoffice, Kapazitätsbeschränkungen oder strengere Anforderungen an Schutzkonzepte».
Die Erfahrung aus dem vergangenen Jahr zeige, dass kantonal unterschiedliche Massnahmen bei einer schweizweit ungünstigen Entwicklung in der Bevölkerung auf wenig Verständnis stossen würden, hält die GDK fest.
Intensivkapazitäten werden erhöht
Die Kantone wollen zudem die Intensivkapazitäten für die Behandlung von Covid-19-Patienten «nach Möglichkeit erhöhen». Allerdings seien diesem Ausbau Grenzen gesetzt, betont die GDK. Die Zahl der betriebenen Betten sei in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich erhöht worden. «Ein starker, kurzfristiger Ausbau wie im Frühling 2020 ist aber nicht mehr möglich.» (rus)