Die Corona-Taskforce des Bundes ist alarmiert: Die epidemiologische Situation in der Schweiz entwickle sich laut Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler ähnlich wie die in Österreich, wo die Fallzahlen neue Höchststände erreichen und die Spitäler überfüllt sind. Droht auch uns ein Lockdown? Blick ordnet ein.
Wo stehen wir heute?
Wir stehen leider nicht besonders gut da. Am Dienstag meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 6345 neue Corona-Fälle. Die Zahl der Neuansteckungen verdoppelt sich alle zwei Wochen, bald wird dies gemäss der wissenschaftlichen Taskforce auch auf die Hospitalisierungen zutreffen. «Die Lage ist kritisch», so auch Patrick Mathys vom BAG. Er warnt: Der Negativtrend werde sich in den kommenden Tagen und Wochen fortsetzen.
Droht uns das Schicksal von Österreich?
Davon geht zumindest die Taskforce aus. «Die momentane Situation basierend auf Fallzahlen ist mit der Situation in Österreich von vor rund drei Wochen vergleichbar», schreiben die Wissenschaftler in einer neuen Lagebeurteilung. Schaut man sich die Spitaldaten an, hinken wir rund fünf Wochen hinterher. Bei den Intensivplätzen wohl gar noch mehr, wobei der Vergleich nicht ganz einfach ist, weil die Schweiz im September hier stärker belastet war als unser östlicher Nachbar.
Die Taskforce jedenfalls erwartet, dass «bei gleichbleibender Dynamik in der Schweiz im Laufe des Dezembers eine ähnliche epidemiologische Situation vorliegen wird wie aktuell in Österreich».
Das heisst aber auch: Ein Lockdown, in dem Österreich nun steckt, steht uns nicht zwangsläufig bevor. Erstens, weil die Schweiz in der Pandemie immer einen Sonderweg eingeschlagen hat. Und zweitens, weil wir noch Zeit haben zu reagieren.
Wie sieht es in den Spitälern aus?
Die Lage ist angespannt. Die Auslastung der Intensivstationen liegt bei 75 Prozent, 20 Prozent der Betten werden von Covid-Patienten belegt. «Es mussten bereits Wahleingriffe verschoben werden, um die Personen auf der Intensivstation betreuen zu können», sagt etwa der Luzerner Gesundheitsdirektor Guido Graf (63). Andere Kantone planen bereits damit.
Die Taskforce sagt: Sobald mehr als 200 Intensivplätze durch Covid-Patienten belegt sind, müssen Patienten verlegt, geplante Eingriffe verschoben werden. Steigt die Zahl auf 300, müssen Patienten übers ganze Land verteilt werden, es wird zu einer «stillen Triage» kommen – es erhält also nicht mehr jeder die gleich gute Behandlung.
Bei 400 und mehr Covid-Patienten auf den Intensivstationen seien die Kapazitäten komplett erschöpft. Alle nicht dringlichen Behandlungen müssen gestoppt werden, es gibt nicht mehr annähernd genügend qualifiziertes Personal. Noch ist es nicht so weit: Am Dienstag lagen 174 Corona-Kranke in einem Intensivbett. Das BAG hält es jedoch für möglich, dass die 200er-Schwelle nächste Woche überschritten wird.
Wird der Bundesrat heute verschärfen?
Es sieht eher so aus, als würde die Landesregierung noch zuwarten. Dem Vernehmen nach wird der Bundesrat heute zwar über die Corona-Lage diskutieren, aber keine Entscheide fällen. Patrick Mathys vom BAG spielte den Ball am Dienstag jedenfalls sehr auffällig den Kantonen zu. «Wir sind immer noch ein föderaler Staat», sagte er. «Die Kantone sollen jetzt reagieren.»
Dies auch, weil sich die epidemiologische Lage zwischen den Kantonen sehr stark unterscheide. Nidwalden mit einer 14-Tage-Inzidenz von 1530 ist sechs Mal stärker betroffen als das Tessin mit einer Inzidenz von 280. Die Zentral- und Ostschweiz zeigen laut Mathys zudem den deutlichen Zusammenhang zwischen dem niedrigen Grad der Durchimpfung und den hohen Fallzahlen auf.
Möglicherweise, so wird spekuliert, will der Bundesrat Ende nächster Woche – das heisst nach der Abstimmung übers Covid-Gesetz – über strengere Massnahmen befinden. 2G scheint nach Blick-Informationen aus dem Rennen zu sein. Um beim Zertifikat einen Unterschied zwischen Geimpften und Genesenen einerseits und Getesteten andererseits zu machen, brauche es eine Gesetzesänderung durch das Parlament. Das hätten juristische Abklärungen ergeben.
Sollte es neue Massnahmen geben, wird das Rad also nicht neu erfunden. Im Kern gehe es darum, insbesondere in Innenräumen die Kontakte zu reduzieren. Möglich wären also eine Verschärfung der Maskenpflicht, eine dringliche Homeoffice-Empfehlung und allenfalls wieder ein Verbot gewisser Veranstaltungen. BAG-Mann Mathys wies darauf hin, dass jede und jeder dazu beitragen könne, das zu verhindern: mit dem Einhalten der Hygienemassnahmen und mit einer Impfung.
Wie reagieren die Kantone?
Einige Kantone haben die Massnahmen bereits verschärft – gemäss der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) in jenen Bereichen, «die typischerweise in ihre Kompetenz fallen», also in Schulen, Heimen und Gesundheitsinstitutionen. Dennoch fordern sie, dass der Bund wieder das Zepter übernimmt und schweizweite Massnahmen ergreift.
Die Erfahrung aus dem letzten Jahr habe gezeigt, dass kantonal unterschiedliche Massnahmen in der Bevölkerung auf wenig Verständnis stiessen, so die GDK auf Anfrage. «Nationale Massnahmen braucht es spätestens dann, wenn sich die Lage weiter zuspitzt und es wieder vermehrt zu Verlegungen von Patientinnen und Patienten kommen sollte.» Damit wiederholt sich das Trauerspiel aus dem letzten Jahr, als die Kantone die heisse Kartoffel an den Bund weiterreichten. Auf den dann der Unmut in der Bevölkerung niederprasselte.
Kann der Booster uns retten?
Er kann die Lage zumindest wesentlich entspannen. Die dritte Impfung könne 10'000 bis 20'000 Spitaleintritte bei den über 70-Jährigen verhindern, rechnet Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler vor. Gleich viele Hospitalisierungen könnten vermieden werden, wenn sich die Ungeimpften impfen lassen würden.
Zum Vergleich: Insgesamt mussten bisher rund 30'000 Corona-Kranke im Spital behandelt werden. Der Booster kann aber noch mehr, nämlich wirksam vor Impfdurchbrüchen schützen. Während zweifach Geimpfte nach sechs Monaten noch doppelt so gut vor einer Infektion geschützt sind wie Ungeimpfte, steigt der Schutz durch den Booster gemäss Studien auf das 20-Fache.