Umstrittene Evakuationsrouten für die Zivilbevölkerung
Humanitäre Korridore können zur Falle werden

Mittels humanitärer Korridore soll die Zivilbevölkerung in der Ukraine aus der umkämpften Stadt Mariupol in Sicherheit gebracht werden. Deren Nutzen aber ist umstritten – denn es könnte danach umso schlimmer kommen.
Publiziert: 10.03.2022 um 08:43 Uhr
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Ukrainer auf dem Weg zur slowakischen Grenze.
Foto: imago/Ukrinform

Auf dem Papier klingen humanitäre Korridore nach einer vernünftigen Lösung. Die Zivilbevölkerung soll so die Möglichkeit haben, sich über bestimmte Routen aus einer umkämpften Stadt in Sicherheit bringen zu können.

Wie sich in den letzten Tagen in der Ukraine gezeigt hat, scheitern diese Korridore in der Praxis aber schnell. Noch schlimmer: In der umkämpften Stadt Mariupol war eine Evakuationsroute sogar vermint, wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz vermeldete. Das zeige, dass solche Korridore nur funktionieren, wenn auf beiden Seiten präzise und genaue Abmachungen bestehen, sagte Dominik Stillhart, Leiter Operationen beim IKRK zu Blick.

«Vorgezogene Siegeserklärung» für die Russen

Was passieren kann, wenn das nicht funktioniert, zeigt das Beispiel Aleppo. In der syrischen Stadt tobten von 2012 bis 2016 Kämpfe. Ein ehemaliger Vertreter der Rebellen warnt in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vor Angeboten humanitärer Korridore der russischen Seite – denn sie führten nur zur Wahl zwischen zwei Übeln.

Mit einer Ablehnung riskiere man das Leben von Zivilisten und liefere der russischen Propaganda eine Steilvorlage. Doch willige man ein, «dann führt das zwangsläufig dazu, dass das Ende des Zeitplans den Beginn der systematischen Bombardierung markiert». Für die Russen seien die Korridore in Syrien nichts anderes gewesen «als eine vorgezogene Siegeserklärung».

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Aleppo, Grosny – und Kiew?

So folgten in Aleppo im Anschluss an die Feuerpausen schwere Angriffe der syrischen Truppen – und massive Luftschläge der russischen Verbündeten. Sie mündeten in der weitgehenden Zerstörung der Stadt. Immer wieder gab es zudem Berichte, dass die Gegenden, durch welche die Evakuationsrouten führen, beschossen wurden.

Waffenstillstandsangebote standen oft im Einklang mit strategischem Kalkül der russischer Seite und wurden gezielt genutzt, um Truppen in Stellung zu bringen. Die Bevölkerung konnte sich keineswegs auf eine Feuerpause verlassen. In einem Fall wurde ein Hilfskonvoi des Syrisch-Arabischen Roten Halbmondes – dem Pendant des Roten Kreuzes in Syrien – sogar gezielt angegriffen. Das ist ein Kriegsverbrechen.

Ähnlich wie in Aleppo taktierten Russland auch in Grosny, damalige Hauptstadt der abtrünnigen Teilrepublik Tschetschenien. Im Dezember 1999 rief Moskau die Zivilbevölkerung auf, die Stadt innert weniger Tage über sichere Korridore zu verlassen. Die Stadt wurde danach derart stark bombardiert, dass die Vereinten Nationen sie zur am schwersten zerstörten Stadt der Welt erklärte.

Zivilbevölkerung muss geschützt werden

Ob auch ukrainischen Städten ein solches Schicksal droht, ist ungewiss. Dock selbst das IKRK hat Vorbehalte gegenüber den Korridoren, sind sie doch – anders als ein Waffenstillstand – sehr eng zeitlich und örtlich begrenzt. «Diese Korridore sind kein Freibrief», hielt Stillhart fest, als er in der «Arena» von SRF zum Thema zugeschaltet wurde. Denn das humanitäre Völkerrecht verpflichtet die Kriegsparteien dazu, die Zivilbevölkerung zu schützen – auch jene, die zurückbleibt.

«Es bleiben Leute in den Städten, oft gerade ältere Leute», erinnerte Stillhart. Auch sie müssten geschützt werden.

(gbl)

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