In der Ukraine sterben Menschen – und die Welt schaut mehr oder weniger ohnmächtig zu. Der russische Präsident Wladimir Putin (69) wird sich kaum dafür verantworten müssen. Und das, obwohl zwei Weltgerichte wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine ermitteln.
Zum einen der Internationale Gerichtshof (IGH), sozusagen das Uno-Gericht: Dort hat die Ukraine Klage gegen Russland eingereicht. Das Gericht soll feststellen, dass die Ukraine im Donbass keinen Völkermord angestrebt hat. Damit nämlich hatte Putin den Einmarsch in die Ukraine begründet. Zum anderen wirft die Ukraine selber Russland Völkermord vor.
Keine der Kriegsparteien anerkennt das Gericht
Dass sich beide Seiten Völkermord vorwerfen, mag überraschen, ist aber logisch, sagt Oliver Diggelmann (54), Professor für Völkerrecht an der Uni Zürich. Zum einen habe Russland diesen Vorwurf als «Fassade» benutzt, um seine Aggression juristisch zu begründen. Zum anderen haben sich weder Russland noch die Ukraine dem IGH unterworfen – anerkennen das Gericht also nicht. Eine Ausnahme ist die sogenannte Genozid-Konvention: «Und jetzt versucht die Ukraine so, eine Zuständigkeit des Gerichts zu erreichen.»
Doch vom IGH hat Putin nichts zu befürchten. Denn hier klagen nur Staaten gegen Staaten, Personen können weder angeklagt noch verurteilt werden. Anders ist es beim Internationalen Strafgerichtshof, der ebenfalls in Den Haag ansässig ist. Dort wird über einzelne Personen gerichtet – wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und Aggression.
Strafgerichtshof sammelt Beweise
Und tatsächlich hat der britische Chefankläger Karim Ahmad Khan (51) im Fall Ukraine Voruntersuchungen eingeleitet, um eventuelle Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Wie Oliver Diggelmann sagt, stehen hier die Chancen, etwas zu finden, gar nicht so schlecht. So sei der Beschuss des AKWs in Saporischschja von vergangener Woche ein klares Kriegsverbrechen, ebenso der Einsatz von Streubomben.
Derzeit ist eine «Beweissicherungsmission», wie Diggelmann sie nennt, im Kriegsgebiet unterwegs: «Sie dokumentieren, was passiert, und nehmen Zeugenaussagen auf.» Ob daraus eine Anklage resultiert, ist allerdings offen – die Ressourcen des Strafgerichtshofs seien begrenzt. «Viele Verfahren sind deshalb im Sand verlaufen.» Zudem müsste man, um Putin persönlich zu belangen, beweisen, dass er höchstselbst Befehle für den Einsatz von Streubomben oder Raketenangriffe auf Wohnhäuser erteilt habe.
Zuerst muss man Putin bekommen
Selbst wenn es zur Anklage kommen dürfte – Putin geniesst keine Immunität –, wird sich der Kreml-Chef kaum einem Prozess stellen. Solange er an der Macht ist und Russland nicht verlässt, ist kaum etwas zu machen. «Das Hauptproblem ist, solche Personen überhaupt vor Gericht zu bekommen», bestätigt Diggelmann.
Eine der wenigen Ausnahmen war der Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic (†2006), der nach einem monatelangen Tauziehen von Serbien nach Den Haag ausgeliefert wurde. «Bei Putin», so Diggelmann, «ist das zurzeit völlig undenkbar. Aber man weiss nicht, was passiert, wenn es zur Anklage kommt.»
Noch ist ohnehin ungewiss, ob der Strafgerichtshof überhaupt zuständig ist. Russland hat ihn nie anerkannt, und auch die Ukraine hat das Römer Statut nie ratifiziert. Kiew hat Den Haag zwar zu Ermittlungen auf seinem Staatsgebiet ermächtigt. Ob das reicht, ist laut Völkerrechtlern aber unklar.