Militärkonvois, die im Schlamm versinken, Panzer, die keinen Treibstoff mehr haben und Soldaten, die gar nicht kämpfen wollen. Die Überlegenheit der russischen Armee wird weltweit immer mehr infrage gestellt.
Das scheinen auch die Soldaten selbst zu merken. Die Moral innerhalb der Truppe scheint zu bröckeln – und wie. «Es sieht sehr danach aus, als würden die ersten Soldaten desertieren», sagt Michael Kofman, Leiter der Russland-Abteilung des Center for Naval Analyses, einer Forschungseinrichtung der US-Marine, zum «Spiegel». Die Fehlplanung sowie der Fakt, dass die Truppen nicht auf den Krieg vorbereitet worden waren, nehmen nun Einfluss auf die Moral und die Kampfkraft der Streitkräfte, so der Analyst.
Weinende Soldaten
Auch die Aufzeichnungen eines privaten britischen Nachrichtendienstes zeichnen ein ähnliches Bild. Die Stimmung scheint auf dem Tiefpunkt. Zu hören sind weinende Soldaten. Es herrscht Chaos. Die Männer sind angespannt. Es fallen viele Schimpfwörter. Die Soldaten sind gestresst und frustriert. Das alles geht aus mehreren Stunden überwachter russischer Militärkommunikation hervor.
«Was wir herausgefunden haben, ist, dass die russischen Soldaten in völliger Unordnung operieren», sagt Samuel Cardillo, CEO von ShadowBreak Intl., zur britischen Zeitung «Telegraph». Die russischen Truppen hätten sogar Schwierigkeiten, ihre Kommunikation aufrechtzuerhalten. Oft würden sie bis zu 20 Minuten damit verbringen, eine Art Soundcheck durchzuführen, sagt er. Die Kommunikation sei dabei nicht verschlüsselt. Ein Abhören damit relativ leicht.
Mit Sturmgewehren und Molotowcocktails empfangen
Und die abgehörten Gespräche demonstrieren, wie nach und nach die Soldaten am Einsatz in der Ukraine zweifeln – und damit die Moral ordentlich Risse bekommt. Kein Wunder: Der Grossteil der russischen Truppen wusste gar nicht, dass sie in den Krieg geschickt werden – die Soldaten dachten, es würde um eine Übung gehen. Zudem rechneten die Soldaten damit, von den Ukrainern als Befreier willkommen geheissen zu werden. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Russen wurden von der Zivilbevölkerung mit Sturmgewehren und Molotowcocktails empfangen.
Ein weiterer Punkt für den schwindenden Kampfgeist: Ein grosser Teil der russischen Armee besteht aus jungen, schlecht ausgebildeten Wehrpflichtigen. Es seien Fälle bekannt, bei denen die jungen Männer absichtlich Löcher in die Kraftstofftanks ihrer Fahrzeuge schlagen – mutmasslich, um nicht an die Front zu müssen, wie ein Pentagon-Mitarbeiter laut der «New York Times» berichtet.
Drei Wochen bis zur Erschöpfung
Anfangs stellte sich die Frage, wie lange die Ukrainer dem Ansturm der Russen noch standhalten können. Nun drängt sich immer mehr die Frage auf, wie lange die russischen Truppen noch in der Lage sind, ihren Einsatz fortzuführen. «Ihr ursprünglich für die Operation vorgesehenes Material scheint aufgebraucht», glaubt Philipps O'Brien, Professor für Militärstrategie an der St. Andrews University in Grossbritannien.
Viele Beobachter gehen davon aus, dass es unter den jetzigen Umständen noch drei bis vier Wochen dauern wird, bis die russischen Truppen erschöpft sind. Der Krieg wäre damit aber vermutlich nicht vorbei. Die Streitkräfte müssten sich aber sicher neu gruppieren und versorgen – möglicherweise während eines Waffenstillstands.
Der Druck auf Putin nimmt aber mit jedem weiteren Tag des Krieges zu. Nicht nur die Sanktionen schwächen die sonst schon angeschlagene russische Wirtschaft, auch der Krieg selbst reisst ein tiefes Loch in die Staatskasse. Der britische Militärhistoriker Lawrence Feedman glaubt, dass Putins Feldzug täglich über eine Milliarde Dollar kosten dürfte. (bra)