Auf einen Blick
Krise, Krise, Krise. Die Schweiz stecke «in einer Biodiversitätskrise, in einer Hitzekrise», in der Klimakrise und leide an «Verkehrswüsten», beklagte die Wirtschaftspolitikerin Franziska Ryser (Grüne) im Nationalrat im September vor einem Jahr. Es ging um die Engpassbeseitigung der Autobahn an neuralgischen Stellen in der Schweiz, darunter in ihrer Heimatstadt St. Gallen. Es ging um die Vorlage, über die in drei Wochen abgestimmt wird.
Die dortige Autobahn A1 führt mitten durch die Stadt – eine Planungssünde der 1970er-Jahre, wie man sie in vielen Schweizer Städten findet. Hunderttausende Fahrzeuge, darunter Lieferwagen, Handwerker- und Lastwagen, stauen sich dort täglich, der Ausweichverkehr zwängt sich durch die Innenstadt. Und doch sagte Ryser: Eine Erweiterung um einen zweispurigen Tunnel komme für sie nicht infrage. Ideologie ist ihr wichtiger als die Wirtschaft.
Abgewählt in Fundamentalopposition
Sie stimmte zusammen mit der Grünen-Parteipräsidentin Lisa Mazzone und ihrer Fraktion gegen den Autobahnausbau. Ein paar Wochen später die Quittung des Stimmvolks: Die Grünen verloren massiv an Wähleranteilen. Auch die Grünliberalen, die sich gegen den Ausbau gewandt hatten, mussten viele Federn lassen. Und Mazzone, die Ständerätin, fuhr nach Bundesbern, um zu packen, denn ihr Kanton Genf hatte sie abgewählt. Ein verkehrsfreundlicher Kandidat, Mauro Poggia, hatte gegen sie gewonnen.
Seit der Wahl sind die Mehrheiten im Parlament klar. Die Schlussabstimmung über die Autobahnvorlage im Dezember war eine Formalität. Die Autobahn soll an Orten, die notorisch überlastet sind, darunter in St. Gallen, erweitert werden. Alle Ausbauten befinden sich in Agglomerationen, wo städtische Ströme und Transitströme einander blockieren. Das sind die Projekte, auf welche die Wirtschaft schon lange wartet.
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Doch die Grünen und die SP in ihrem Schlepptau schalteten in den Trotzmodus. Sie ergriffen das Referendum. Seitdem orchestrieren Mazzone und SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer eine dick aufgetragene Nein-Kampagne. Nein zu «Mega-Strassen» (Grüne), Nein zu «gigantischen Autobahnen» (VCS) und «Stopp der Autolobby» (SP).
Der grüne Verkehrsclub VCS insinuiert gar, dass alle Hauptverkehrsachsen «mit sechs bis acht Spuren ausgebaut» würden. Der Ausbau sei «zu gross für die Schweiz». So viel Ideologie, doch was sind die Fakten?
Das Rückgrat der Wirtschaft
Die Wahrheit ist: In der Schweiz werden kaum mehr Autobahnen gebaut. In den letzten zehn Jahren kamen 36,8 Kilometer dazu, bei einem Netz von 1466 Kilometern. Heute werden nur noch Engpässe beseitigt. Von «gigantischen Autobahnen», wie es die Grünen behaupten, kann nicht die Rede sein.
Der Bau begann 1962. Der grosse Schub fand bis Ende des letzten Jahrhunderts statt. Danach investierte der Bund vor allem in Bahnen. Dies zeigt ein exklusiver Vergleich der Infrastrukturkosten der «Handelszeitung»: Während in Bahnen jährlich rund 1,3 Milliarden Franken investiert werden, sind es bei den Autobahnen 237 Millionen.
Der Vorwurf der Linken, dass die Bürgerlichen viel Geld in den motorisierten Verkehr stecken wollen, ist also falsch. Daran wird auch ein Ja zur Vorlage nicht viel ändern.
Alle werden mobiler
Wahr ist auch, dass in den letzten zwanzig Jahren die Mobilität stark zugenommen hat. Die Menschen sind viel häufiger unterwegs als früher. Dies zeigen zwei Zahlen: Die Fahrleistung auf Autobahnen nahm von 2004 bis heute um 50 Prozent zu, während die Bevölkerungszahl nur um 22 Prozent wuchs.
Es ist also nicht die Zuwanderung, welche die Autobahnen füllt, sondern ein stark gestiegenes Mobilitätsbedürfnis, was sich auch bei der Bahn beobachten lässt: mehr Pendelverkehr, mehr Fahrten zur Ausbildung, mehr Freizeitverkehr – und mehr Arbeitsverkehr.
Online bestelltes Produkt kommt via Autobahn
Dies zeigen die folgenden Zahlen. Sieben von zehn Gütern, die von Unternehmen oder Haushalten bestellt werden, werden via Autobahn geliefert – über Strassen also, die nur 3 Prozent des Strassennetzes ausmachen. Mit anderen Worten: Die Nationalstrassen sind das Rückgrat des Verkehrs. «Jetzt soll man doch bitte nicht sagen, dass hier die Strasse als Mittel zum Zweck einfach erweitert wird», enervierte sich Verkehrsminister Albert Rösti über links-grüne Kritik im Rat.
Insbesondere der Onlinehandel hat zu Mehrverkehr geführt. Die Zahl der Lieferungen per Lastwagen und Kleinlaster ist nach oben geschnellt, während der inländische Schienengüterverkehr seit Jahren stagniert – weil sich die inländische Güterbahn nicht lohnt.
Viel mehr Stau als früher
Mehr Mobilität und mehr Arbeitsverkehr, aber fast kein Autobahnausbau: Dies erklärt die Explosion der Staustunden. Ein von der «Handelszeitung» erstellter Vergleich für die Zeit von 2000 bis 2023 zeigt, dass sich der Verkehr um die Jahrtausendwende mit 0,6 Stunden pro Person und Jahr staute. Heute sind es 4,7 Stunden – die Autos und Lastwagen stehen also siebenmal länger im Stau als zur Jahrtausendwende.
Das Amt für Raumentwicklung schätzt die volkswirtschaftlichen Kosten des Staus auf 3 Milliarden Franken – pro Jahr.
Dasselbe Amt hat auch eine Prognose gemacht: Es erwartet bis 2050 eine Verdreifachung der Zahl der gelieferten Pakete von 0,6 auf 1,7 Millionen Sendungen pro Tag. Dieses Aufkommen wird die gefahrenen Kilometer der Lieferwagen von 6,34 auf 10 Milliarden pro Jahr ansteigen lassen. Während also Mazzone und der VCS behaupten, der Autobahnausbau sei «zu gross für die Schweiz», ist es umgekehrt: Der zu erwartende Lieferverkehr wird für die Autobahnen des Landes schon bald zu gross sein.
Alte Reflexe der Linken gegen die Autobahn
Aus dieser Optik ist die Opposition schwer zu verstehen. Der frühere SVP-Verkehrspolitiker Ulrich Giezendanner sieht im Widerstand denn auch «alte Reflexe aus früheren Zeiten». Heute brauche es beides, den massvollen Ausbau der Bahnen und der Autobahnen, um das Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Giezendanner, der Logistikunternehmer, setzte sich in seinen langen 28 Jahren als SVP-Nationalrat immer gemeinsam mit den Linken für eine Kombination von Bahn und Strasse ein.
Die derzeitige Gegnerschaft sei wohl dem Umstand geschuldet, dass der Verkehrsminister ein SVPler sei. Lange waren linke Bundesratsmitglieder oder solche der Mittepartei für die Strasse verantwortlich. «Da hätte die Linke nie ein Referendum dagegen ergriffen», weiss Giezendanner.
Einer, der in der aufgeheizten Debatte die Dinge ordnet, ist der ebenfalls langjährige FDP-Nationalrat und Verkehrspolitiker Kurt Fluri. Er ist vor kurzem zurückgetreten. Im Rat sagte er: «Die wenigsten Leute sind verkehrspolitisch so ideologisiert wie ein Teil des Parlaments.» Die meisten Leute benutzten das Verkehrsmittel, das ihnen zu bestimmten Zwecken zu bestimmten Zeiten am meisten diene, so Fluri.
«Sie haben zwar ein Auto und benutzen es, wenn es sinnvoll ist; sie fahren aber auch mit dem ÖV, wenn sie es als sinnvoll und praktisch erachten. Sie benutzen das Velo und gehen zu Fuss, wenn sie es als praktisch und sinnvoll erachten.» Er forderte Links-Grün auf, ideologisch abzurüsten.
In der Schlussabstimmung zur Autobahnvorlage zeigten sich denn auch fünf linke Standesvertreter neutral: Vier nicht ideologische SP-Ständeräte und die grüne Ständerätin Maja Graf aus dem Baselbiet enthielten sich der Stimme. Damit signalisierten sie: Wir sind nicht dagegen, aber wir können wegen der Nein-Parteiparolen auch nicht offiziell dafür sein. Ein solch pragmatisches Verhalten war schon früher zu beobachten. Grüne stimmten für Autobahnprojekte, wenn es ihre eigenen Regionen betraf. Deshalb ist es schwer zu verstehen, warum die sich als Wirtschaftspolitikerin verstehende Franziska Ryser die grosse Krise heraufbeschwört, statt sich für die St. Galler Tunnelröhre einzusetzen.