«In diesen Kartons sind Babykleider.» Ewelina Kuziora (30) hält inne, blickt zur Decke, lässt den Zeigefinger sinken. Die Hilfsbereitschaft, die sie in diesen Tagen erfährt, ist offenbar überwältigend – nicht minder als der Gedanke der Helfenden an Kinder, die fliehen müssen ...
Seit Putins Armee in die Ukraine eingefallen ist, ist die polnische Ingenieurin in Zürich nonstop mit Organisieren beschäftigt. Vor einer Woche startete sie auf Instagram einen Sammelaufruf für die Flüchtlinge an der ukrainisch-polnischen Grenze. Nun kündigt fast im Minutentakt eine Nachricht im sozialen Netzwerk oder ein Klingeln an ihrer Tür neue Spenden an.
In ihrem Studio in der City stapeln sich Boxen voller Kleider, Hygieneartikel, Teigwaren oder Schlafsäcke. So viele, dass Kuziora zeitweise ein externes Depot suchen musste. «Am Tag der russischen Invasion habe ich mit meiner Familie in Polen am Telefon geweint. Unsere Länder sind eng verbunden, wir haben dort Freunde und Bekannte. Ich fühlte mich ohnmächtig und musste etwas tun.»
An diesem Wochenende bringen Transportunternehmen die gesammelten Güter in Empfangszentren der Stadt Stalowa Wola im polnischen Südosten, gegenüber der ukrainischen Stadt Lwiw, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs polnisch war. Kuzioras Heimat hat sich auf eine Million Flüchtlinge eingestellt.
Inspiriert durch den Aufruf ihrer Bekannten, klapperte die Westschweizerin Stefania Ruch (30) die Geschäfte ihres Wohnorts Payerne VD ab und fragte, ob sie etwas geben möchten: «Es hat mich sehr gefreut, dass jedes einzelne – darunter auch sehr kleine Apotheken – hochwertige Babynahrung spendete, oft im Wert von 200 Franken.»
Geplant war ein vollgepacktes Auto, schliesslich wurde ihr Haus zum Sammelzentrum der privaten Aktion in der Romandie. «Die Bilder von Müttern und Kindern, die verzweifelt ihre Heimat verlassen, haben mich zutiefst erschüttert. Eigentlich hätte ich gern mehr getan, die 50 Kartons selbst zur Grenze gefahren und dort geholfen.»
In Sorge um die Verwandten
So wie Kseniia und Thorsten. Das ukrainisch-schweizerische Ehepaar reiste letzten Sonntag in Richtung Vysne Nemecke, einer slowakischen Gemeinde direkt an der Grenze zum Krieg. Hier, 1300 Kilometer von Zürich entfernt, kommen täglich 10'000 Flüchtlinge an. Kseniia: «Wir machen uns grosse Sorgen um meine Verwandten, leiden mit und wollen helfen.»
Beide nahmen an ihrem Arbeitsplatz frei, sammelten bei Freunden und Nachbarn, gründeten den Verein Ukrainehilfe – und fuhren los. Seit Dienstag sind die beiden an der Grenze. Zuerst verteilten sie Spenden, sortierten Isomatten in einem improvisierten Empfangslager, nun empfangen sie die Flüchtenden direkt am Übergang.
Kseniia sagt: «Ich versuche, die oft weinenden und verzweifelten Menschen zu beruhigen und Trost zu spenden – viele sind von Schuldgefühlen geplagt, denken, sie hätten Verwandte und ihr Land im Stich gelassen, schämen sich, Hilfe anzunehmen.»
Derweil koordiniert das Paar bereits den nächsten Transport aus der Schweiz und sammelt Geld. Von Anfang an konnten die beiden auf grosse Hilfsbereitschaft zählen, erzählt Thorsten: «Nebst einigen Spenden stellte uns der Autovermieter kostenlos ein grösseres Fahrzeug zur Verfügung und die Übernachtung auf der Durchreise in Wien hat uns der Hotelier erlassen.» Auf Kseniias Familie – ein Teil wohnt unweit der Krim unter russischer Besatzung – werden sie an der Grenze nicht treffen. «Meine Familie hat Angst vor der Flucht und meine Mutter fühlt sich als Leiterin des Kinderkrankenhauses Land und Patienten verpflichtet.»
Pfarrer Zsolt Gödri (76) aus dem zürcherischen Fällanden kennt humanitäre Krisen nur zu gut. «Den Ungarnaufstand habe ich als elfjähriger Bub erlebt. Die Bilder von verbrannten Soldaten auf der Strasse neben zerstörten Panzern, die Wochen im Luftschutzkeller und ähnliches werden in mir wach, wenn ich die Bilder in der Ukraine sehe. Unvorstellbar für mich, dass im 21. Jahrhundert mitten in Europa so etwas wieder möglich ist.» Nach der rumänischen Revolution 1989 organisierte er über Jahre hinweg Transporte von Hilfsgütern nach Rumänien.
Letztes Wochenende hatte er eine Eingebung: «Was bringt es, im Fernsehen über Stunden hinweg Brutalitäten anzuschauen und über die Lage zu schlaumeiern? Auch jetzt müssen wir handeln!» Der Pfarrer setzte einen Spendenaufruf auf, verschickte ihn per E-Mail und Whatsapp an Kollegen, irgendwann landete das Schreiben in einem sozialen Netzwerk. «Seither rollt die Solidarität wie eine Lawine über mich, weit über hundert Menschen haben sich bereits gemeldet.» Mit den gespendeten Sachen will Gödri nun mit drei Helfern an die ungarisch-ukrainische Grenze fahren.
Socken für Menschen in Not
Auch Maria-Theresia Theiler (68) will helfen. Die Luzernerin lismet gerade Sockenpaar um Sockenpaar für die Menschen in Not. «Ich kann nicht einfach zuschauen, sondern muss etwas Sinnvolles tun», sagt sie. «Man kann ja nicht schlafen, wenn man kalte Füsse hat.»
Hundert Paar Socken in allen Grössen hat Theiler mit ihrer Tante Elisabeth Schnider (77) schon für Ukrainerinnen und Ukrainer glismet und an Hilfswerke gespendet, die sie vor Ort verteilen. Und es werden laufend mehr, sagt Theiler.
Am meisten lismen die beiden Frauen für die Kleinsten. «Ich habe selbst Grosskinder. Es bricht einem das Herz, wenn man Kinder in einer solchen Not sieht», sagt Theiler. Sie hofft, dass sie mit ihrer Aktion noch weitere passionierte Lismerinnen inspiriert: «Ich gebe auch gerne Wolle ab!»
Neben Sachspenden und tatkräftigem Anpacken helfen Schweizerinnen und Schweizer auch mit dem Portemonnaie. Bei der Glückskette kamen, Stand Freitagabend, seit Kriegsausbruch mehr als 20 Millionen Franken Spendengelder zusammen: «Geldspenden sind nun sehr wichtig, dann kann man vor Ort schnell, effizient und kurzfristig entscheiden, was die Menschen am dringendsten nötig haben und zielgerichtet helfen», sagt Helvetas-Sprecherin Katrin Hafner, deren Organisation aktuell an der ukrainisch-moldawischen Grenze Geflüchtete unterstützt.
Tausende Schweizerinnen und Schweizer haben sich unterdessen bereiterklärt, Flüchtlinge zu Hause aufzunehmen oder ihnen Zimmer, Wohnungen oder -Ferienhäuser zur Verfügung zu stellen, wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe mitteilt: Man erhalte derzeit unzählige Angebote für private Unterbringungen.
Nach der Gespaltenheit der Gesellschaft während der Corona-Krise ist nun die Solidarität gross – und es herrscht Einigkeit im allgemeinen Appell: Bitte weiter helfen!