Auf einen Blick
Das Haus in Bern, in dem der Schweizer Pflegeverband seine Büros hat, ist mit «Pension Eden» angeschrieben. Früher erholten sich hier gut betuchte ältere Damen nach einem Spitalaufenthalt. Paradiesisch ist die Situation für Pflegende hierzulande aber noch lange nicht. Vergangene Woche endete die Vernehmlassung zum zweiten Massnahmenpaket zur Umsetzung der Pflege-Initiative. Yvonne Ribi, die Geschäftsführerin des Verbands, ist noch nicht zufrieden. Im Gespräch mit Blick fordert sie ein Nachbessern. Die Regierung müsse dringend skizzieren, wie sie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege finanzieren wolle.
Blick: Frau Ribi, auf einer Skala von 1 bis 10: Wie geht es den Pflegenden im Land?
Yvonne Ribi: 5–6.
Also mittelmässig.
Genau. Es gibt viel Luft nach oben.
Wo drückt der Schuh?
Manche Spitäler beklagen einen chronischen Mangel an Pflegefachpersonen. Das ist in vieler Hinsicht ein Problem: Schliesst man Betten, sinken die Einnahmen. Betreibt man sie trotz Personalnot weiter, hat das eine Mehrbelastung der Pflege zur Folge. Die Angestellten müssen sich dann fast zerreissen, um den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden.
Wie durchbricht man diesen Teufelskreis?
Mit genügend Personal! Dieses Ziel steht seit Annahme der Pflege-Initiative vor drei Jahren in der Bundesverfassung. Wir müssen mehr Leute ausbilden und selbstverständlich dafür sorgen, dass möglichst viele ihrem Beruf treu bleiben.
Wie schaffen wir das?
Indem wir die Arbeitsbedingungen verbessern. Es braucht Einsatzpläne, die neben dem Job ein Familienleben zulassen, gerechtere Löhne und Massnahmen, die den psychischen und physischen Belastungen während der Arbeit entgegenwirken.
Was macht den Job so hart?
Wer eine Schicht beginnt, bekommt eine bestimmte Anzahl Patientinnen und Patienten zugeteilt. Wenn einer oder eine davon dekompensiert, haben Sie weniger Zeit für die anderen, vernachlässigen sie womöglich sogar. Nicht allen so gerecht werden zu können, wie man das eigentlich von sich erwartet, ist eine grosse Belastung für die Pflegenden. Wenn dann noch etwas passiert, ist es eine Tragödie für sämtliche Beteiligten.
Einige Kantone haben vor kurzem Ausbildungsoffensiven gestartet. Sehen Sie bereits Erfolge?
Dass das Ausbildungszentrum Xund in Luzern rekordhohe Anmeldungen bei den Pflegefachpersonen verzeichnet, freut mich unglaublich. Es ist der tollste Beruf, den es gibt. Die Ausbildungsoffensive gehört zur ersten Etappe bei der Umsetzung der Pflege-Initiative. Studierende, die eine Pflegefachausbildung beginnen, können beim Kanton finanzielle Unterstützung beantragen. Derzeit herrscht da Föderalismus pur: Im Aargau müssen Sie dafür 25 Jahre alt sein, im Kanton Bern 27 und so weiter. So besteht das Risiko, dass ein Ausbildungstourismus entsteht. Deshalb streben wir eine Harmonisierung dieser Unterstützungsleistungen an.
Bleiben wir von ausländischen Pflegenden abhängig, bis die Ausbildungsoffensive Früchte trägt?
Auch darüber hinaus. In der Pflege gab es immer schon einen Anteil an Kolleginnen und Kollegen mit ausländischem Diplom. Ohne sie würde es gar nicht gehen. Auf keinen Fall aber dürfen wir auf diese Rekrutierung bauen. Denn auch die Regierungen unserer Nachbarländer haben inzwischen erkannt, dass sie auf ihr Pflegepersonal angewiesen sind. Nun verbessern sie ihre Anstellungsbedingungen. Ich erwarte, dass die Rekrutierung im Ausland künftig schwieriger wird – trotz vergleichsweise höheren Löhnen in der Schweiz.
Wo sind die Arbeitsbedingungen heute besser als noch vor fünf Jahren?
Überall dort, wo man die Zeichen der Zeit erkannt und in Eigenregie investiert hat. Der Kanton Wallis zum Beispiel investierte über 40 Millionen Franken in Projekte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Als direkte Folge konnte man in den Spitälern 40 Stellen mehr besetzen.
Die diplomierte Pflegefachfrau Yvonne Ribi (48) ist seit 2013 Geschäftsführerin des Schweizerischen Pflegeverbandes (SBK), mit über 25'000 Mitgliedern einer der grössten Berufsverbände im Schweizer Gesundheitssystem. Nach der Matura auf dem zweiten Bildungsweg hat sie 2011 den Executive MBA in Management für Non-Profit-Organisationen an der Universität Freiburg abgeschlossen. Für die gewonnene Pflege-Initiative wurde Ribi 2022 mit dem internationalen «Heroine of Health»-Award ausgezeichnet.
Die diplomierte Pflegefachfrau Yvonne Ribi (48) ist seit 2013 Geschäftsführerin des Schweizerischen Pflegeverbandes (SBK), mit über 25'000 Mitgliedern einer der grössten Berufsverbände im Schweizer Gesundheitssystem. Nach der Matura auf dem zweiten Bildungsweg hat sie 2011 den Executive MBA in Management für Non-Profit-Organisationen an der Universität Freiburg abgeschlossen. Für die gewonnene Pflege-Initiative wurde Ribi 2022 mit dem internationalen «Heroine of Health»-Award ausgezeichnet.
Viele Spitäler schreiben schon heute rote Zahlen.
Wir geben im Gesundheitswesen 90 Milliarden Franken aus. Im Wissen darum, dass die Anzahl von Menschen, die auf unsere Leistungen angewiesen sind, noch steigen wird, müssen wir uns gut überlegen, wie wir dieses Geld in Zukunft investieren.
Kurz: Sie wollen mehr Geld.
Ein Babyboomer sagte mir jüngst: «Wir waren immer zu viele. In der Schule, bei der Lehrstellensuche – und bald wohl auch im Altersheim.» Es ist völlig klar und eine direkte Folge der Demografie, dass die pflegerische Versorgung in Zukunft teurer wird.
Wie soll das finanziert werden?
Das ist die Preisfrage. Das zweite Massnahmenpaket des Bundesrats zur Umsetzung der Pflege-Initiative war bis am vergangenen Donnerstag in der Vernehmlassung. Tatsächlich fehlt darin ein Plan, wie man die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen finanzieren will. Dabei wäre die Rechnung ganz einfach: Je qualitativ hochstehender die Pflege im Spital ist, umso schneller können die Patientinnen und Patienten es wieder verlassen. Das spart Kosten.
Dann hat der Bundesrat aus Ihrer Sicht seine Arbeit nicht gemacht?
Nur zur Hälfte. Das zweite Paket ist entscheidend, deswegen gingen wir damals in die Abstimmung. Was fehlt, sind Überlegungen zur Personaldotation: Wie viele Pflegende sollen sich künftig um einen Patienten oder eine Patientin kümmern? Und unklar ist – wie bereits erwähnt – auch die Finanzierung der Verbesserungen. Hier muss der Bundesrat zwingend nachbessern und verschiedene Modelle mit Kostenfolgeabschätzung liefern. Wäre ich Politikerin, würde ich fragen: «Was kostet das – und wer bezahlt dafür?» Die Debatte wird verzögert, wenn wir nicht Tacheles reden.
Über welche Druckmittel verfügen Sie, um den Prozess zu beschleunigen?
Es kann sich niemand leisten, nicht in die Pflege zu investieren. Das müssen sich die Politiker immer wieder vor Augen führen. Die Folgen wären mehr Leid und höhere Kosten, weil es den Leuten schlechter geht. Mit seinem Ja zur Pflege-Initiative hat das Volk einen Auftrag erteilt: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege.
Und sonst kommt die Durchsetzungs-Initiative?
Das wäre eine Möglichkeit. Ich denke aber, dass man inzwischen gemerkt hat, wie wichtig die Pflege ist. Sie bildet das Rückgrat der Gesundheitsversorgung. Zu Hause, in der Mütter- und Väterberatung, in Heimen, im Spital, in den Psychiatrien oder in den Reha-Kliniken. Unsere Leute fordern diese Umsetzung jetzt, wenn nötig auch auf der Strasse.
Welchen Anteil an der Verbesserung der Situation hat Ihre Branche selbst?
Digitale Transformation ist für mich zentral. Heutzutage haben nahezu alle ein Gadget am Handgelenk, das den Puls misst, die Sauerstoffsättigung oder den Blutdruck. Die Pflegenden eilen aber immer noch von Spitalbett zu Spitalbett, um mit Fiebermesser und Blutdruckgerät an diese Informationen zu gelangen. Das ist ineffizient.
Dann bekommen beim Spitaleintritt künftig alle eine Smartwatch ausgehändigt?
Warum nicht? Wenn die Digitalisierung dabei hilft, Ressourcen freizuspielen, die anderswo besser und vernünftiger eingesetzt werden können, ergibt das doch Sinn.
Ihre Kolleginnen und Kollegen fordern eine 35-Stunden-Woche. Ist das realistisch?
Ich kann das selbstverständlich nachvollziehen. Die Pflege ist ein strenger Beruf. Psychisch und physisch. Viele können gar nicht Vollzeit arbeiten, weil die Belastung so gross ist. Die Wahlfreiheit macht es aus: Es benötigt flexible Arbeitsmodelle, die dafür sorgen, dass möglichst viele Pflegende ins System kommen und dann auch bleiben.