Der Basler Pflegende Reto Müller* (60) hat Gewissensbisse: «Oft komme ich nach einem Tag im Altersheim gefrustet nach Hause, weil ich das Gefühl habe, dass ich meine Arbeit nicht richtig mache.» Er ist einer der Pflegendenden, die sich bei der Redaktion meldeten, nachdem SonntagsBlick berichtet hatte, dass in der Schweiz nach wie vor Tausende von älteren Bewohnenden in Alters- und Pflegeheimen mit Bettgittern und Fixiergurten daran gehindert werden, sich eigenständig zu bewegen.
In einigen Heimen sind mehr als ein Fünftel der Bewohnenden von dieser Praxis betroffen. Jeder und jede zweite Demente wird in Alters- und Pflegeheimen mit Psychopharmaka ruhiggestellt – obwohl sich Fachleute einig sind, dass dies nur selten wirklich nötig ist.
Mehrere Pflegende berichten SonntagsBlick jetzt, dass sie diese freiheitsbeschränkenden Massnahmen einsetzen, um gefährliche Situationen zu vermeiden, etwa Stürze oder Gewaltausbrüche, aber selbst oft mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen haben. In vielen Fällen gebe es zwar bessere Lösungen, für die aber reiche im hektischen Alltag oft nicht die Zeit. Die Informanten wollen anonym bleiben – aus Angst, die Schweigepflicht zu brechen und ihren Job zu verlieren.
«Du übst Druck aus, das provoziert Gegenwehr»
Fachleute bestätigen, dass Pflegende oft in einem moralischen Dilemma steckten: Sie setzten Gurte, Gitter und beruhigende Medikamente meist mit guter Absicht, aber auch aus Überforderung ein. «Man kann auf fast jede freiheitsbeschränkende Massnahme verzichten, wenn man genügend und genügend gut ausgebildetes Personal hat», sagt Christina Schumacher, stellvertretende Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands für Pflegefachpersonal SBK. Auch Viviane Hösli, die beim Verband des Personals öffentlicher Dienste VPOD für das Gesundheitspersonal zuständig ist, berichtet von überforderten Mitarbeitern, die sich in schwierigen Situationen oft aus Zeitmangel nicht anders zu helfen wüssten und dann von Gewissensbissen geplagt würden.
Alterspflege
Der Pflegende Reto Müller schildert eine typische Situation: «Du bist im Frühdienst zu zweit für zwölf hoch demente Bewohner zuständig. Es bleibt keine Zeit für ein nettes Wort. Du läufst wie gestört von einem zum anderen, übst Druck aus, damit die Pflege schnell geht. Das provoziert immer Gegenwehr, schliesslich sind die Bewohner keine Roboter. Viele wehren sich körperlich. Dann schaust du auf der Medikamentenliste nach, ob du Psychopharmaka verabreichen kannst.»
Bei Menschen im Heim, die beispielsweise wegen psychischer Probleme massiv gewalttätig seien, habe das Personal in gefährlichen Situationen oft wenige Alternativen, sagt Müller. «Aber bei den meisten Menschen mit Demenz reicht es, wenn man mit ihnen lacht und sich ihre Lebensgeschichte anhört. Dann werden sie ruhiger und gelassener, und es braucht weder Fixiergurte noch Psychopharmaka.»
Fixiert, weil niemand Zeit hat
Vor etwa sechs Jahren habe er sich in einem Pflegeheim in Basel um eine etwa 80-jährige Bewohnerin gekümmert. Müller beschreibt sie als «ruhige und sanfte Person», die sich ein oder zweimal gegen einen Pflegenden gewehrt und Sachen durch die Gegend geschmissen habe, daraufhin durchgehend mit Psychopharmaka ruhiggestellt worden sei und nur noch apathisch im Bett gelegen habe. «Nach einer Weile fiel mir plötzlich auf, dass sie wieder wacher war, Freude am Leben hatte. Und ich merkte: Huh, wir haben mehrere Wochen lang vergessen, ihr die Medikamente zu geben. Trotzdem hat sie keinerlei Probleme gemacht», erzählt Müller. Er ist überzeugt, dass es nie nötig gewesen wäre, ihr Psychopharmaka zu geben.
Müller beschreibt, welche Folgen das auch für ihn und viele seiner Berufskolleginnen oder Kollegen hat: «Ich habe oft gedacht, es verreisst mich innerlich. Ich kann nicht mehr zu dem stehen, was ich da mache. Als angehender Pflegender lehrt man zuerst, wie wichtig die Würde eines Menschen ist. Wenn jemand etwas nicht will, kann ich die Person nicht einfach zwingen. Man lernt, die Leute wertzuschätzen, auf sie einzugehen und Vertrauen aufzubauen. Aber wir müssen Zeit haben, um den Job zu machen.»
SBK-Geschäftsführerin Schumacher berichtet, dass Bewohnerinnen und Bewohner in Gemeinschaftsräumen häufig am Rumpf fixiert würden, damit sie nicht aufstünden und stürzten. «Wenn es genügend Personal gibt und jemand da ist und schaut, dass nichts passiert, ist das eigentlich nicht nötig.»
«Das ist absolut unzumutbar»
Laut Viviane Hösli vom VPOD sind Pflegende nachts oft allein für bis zu 50 Bewohnende zuständig, die teilweise noch auf mehrere Stockwerke verteilt sind. «Wenn eine Person herumwandert und man nach ihr schauen muss, kommt man schnell an seine Grenzen. An der nächsten Teamsitzung heisst es: Das ist jetzt die dritte Nacht, in der die Person «mühsam» war, jetzt sagen wir dem Heimarzt, dass sie Medikamente braucht.» Hösli gibt zu bedenken: «Dabei wäre es vielleicht besser, wenn man mit der Person kurz einen Tee trinkt und etwas plaudert, damit sie gut einschlafen kann.»
Laut Hösli leiden die Pflegenden selbst darunter, wenn sie keine gute Pflege anbieten können: «Viele werden psychisch krank, stumpfen ab oder verlassen den Beruf.» Die VPOD-Verantwortliche fordert von Gemeinden und Kantonen, mehr ins Personal zu investieren und die Bedingungen für die Pflege zu verbessern.
Das fordert auch Bea Heim, Präsidentin des Dachverbands aktiver Seniorinnen und Senioren Schweiz und ehemalige SP-Nationalrätin: «Wenn es zutrifft, dass in Alters- und Pflegeheimen Menschen fixiert, mit Bettgittern eingesperrt oder medikamentös sediert werden, weil es nicht genügend Personal gibt, ist dies absolut unzumutbar.» Kantone, Gemeinden und Eigner von Altersinstitutionen müssten dringend ihre Verantwortung wahrnehmen und dafür sorgen, dass genügend Personal zur Verfügung stehe. Heim: «Menschenrechte gelten für alle, auch für Pflegebedürftige und im Alter.»
Beim Verband der Alters- und Pflegeinstitutionen Curaviva heisst es: «Bewegungseinschränkende Massnahmen sind eine komplexe und anspruchsvolle Thematik.» Würde und Selbstbestimmung müssten besonders geschützt werden. Man setze diese Mittel inzwischen seltener ein als früher. Zudem geschehe dies «stets unter Berücksichtigung grösstmöglicher Autonomiefähigkeit gemeinsam mit behandelnden Ärzten, Angehörigen und gesetzlichen Vertretern».
* Name geändert