Das Bild einer russischen Matrjoschka auf der Thermosflasche in ihren Händen reichte, um den Mann zum Explodieren zu bringen. Sie und ihre Landsleute trügen die Schuld am Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer, schmetterte er Anna S. (36) in der Zürcher S-Bahn ins Gesicht. «Dann spuckte er mir vor die Füsse und rannte davon», erzählt die Russin, die aus Moskau stammt und schon lange in der Schweiz lebt und arbeitet. Sie sei geschockt gewesen und habe gezittert. «Seit dem Angriff habe ich Angst, in der Öffentlichkeit russisch zu sprechen», sagt S.
Auch andere Russinnen und Russen in der Schweiz erleben in diesen Tagen Hass und Ausgrenzung wegen ihrer Staatsangehörigkeit. Viele russische Bürger und gerade Expats unterstützen Präsident Wladimir Putin (69) nicht – und schon gar nicht die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine. In Russland sind laut der Menschenrechtsorganisation OVD-Info schon über 6800 Demonstranten inhaftiert worden.
«Ich habe zwei Nächte lang kein Auge zugetan»
Putins Einmarsch in die Ukraine sei ein Schock gewesen, sagt Galina B. (36). Die gebürtige Russin wohnt mit ihrer Familie in Zürich. Aus Sorge um ihre Kinder möchte sie ebenfalls anonym bleiben. «Ich habe zwei Nächte lang kein Auge zugetan», sagt sie.
Weil sie negative Reaktionen befürchtete, habe auch sie sich zuerst fast nicht mehr getraut, im Bus ihre Muttersprache zu sprechen. Dann aber habe sie beschlossen, sich nicht einschüchtern lassen zu wollen. Sie sagt: «Wir Russen sind nicht verantwortlich dafür, was unsere Regierung tut. Das ist nicht fair.»
Drohungen und Beschuldigungen
Galina B. sagt, sie sorge sich vor allem um ihre Kinder. Ihr Sohn (6) fragte sie, nachdem er im Radio vom Krieg gehört hatte: «Mama, warum sagen alle, wir sind dumm?»
Auf Facebook berichtet eine gebürtige Russin aus dem Kanton Aargau, Mitschüler hätten ihrem Sohn in der Schule an den Kopf geworfen, er sei schuld an dem, was momentan in der Ukraine passiere.
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Im Kanton Zürich hat die Leiterin einer russischsprachigen Spielgruppe derweil eine Nachricht bekommen, die durchaus als Drohung verstanden werden kann. «Wenn ich dich wäre, würde ich die Spielgruppe zumachen. Es grüsst die Ukraine», wurde ihr geschrieben. Nun hat die Frau den Namen der Spielgruppe vorsichtshalber geändert, damit er nicht mehr gleich mit Russland in Verbindung gebracht wird.
«Fragen Sie Ihren Putin»
Putins Krieg trifft die Russinnen und Russen in der Schweiz aber auch in Form der Sanktionen. «Die Bevölkerung wird für etwas bestraft, das sie nicht gewollt hat», stellt Anna S. mit Bitterkeit in der Stimme fest.
Für viele Russen besonders bitter sind die eingestellten Flugverbindungen zwischen Russland und dem Westen. Denn wegen der Covid-Reiseeinschränkungen waren Besuche in den vergangenen zwei Jahren sowieso kaum möglich. Galina B.s Mutter ist verwitwet und lebt in Russland. «Wegen Corona haben wir uns seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen», sagt sie. Durch die Sanktionen ist ein Besuch nun erneut in weite Ferne gerückt.
Eine Freundin von Anna S., ebenfalls eine in der Schweiz lebende Russin, steckt derzeit wegen der eingestellten Flugverbindungen von und nach Russland in Moskau fest. «Sie hat gestern die Swiss angerufen, um zu fragen, wann sie zurückkehren kann. Die Antwort: ‹Fragen Sie Ihren Putin.›»
* Name geändert