Sechs Gehminuten vom Moskauer Kreml entfernt liegt ein kleines Restaurant. Über Nacht hat es Hunderte neuer Google-Rezensionen erhalten. Doch statt Burger, Pommes und Service bewerteten die Nutzerinnen und Nutzer die russische Regierung: «Stoppt diesen Wahnsinn in der Ukraine», «Es sterben so viele Zivilisten» oder: «Bitte, sagt NEIN zu Putin!».
Die Bilder von ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern, die sich bewaffnen, gingen um die Welt. Jetzt greifen die Ukrainer zu den Cyberwaffen – und folgen damit einem Aufruf des Hackerkollektivs Anonymous. Das Ziel: Die russische Bevölkerung über den Krieg aufklären, via Restaurantbewertungen und Tinder.
5-Sterne-Frühstück in Moskau
«Geht auf Google Maps. Geht nach Russland», twitterte Anonymous am Montagabend. Ziel der Aktion: Eine Firma, ein Restaurant oder einen Geldautomaten finden und eine Bewertung verfassen. «Erklärt darin, was in der Ukraine los ist», schreibt das globale Hackerkollektiv weiter.
Über 25’000-mal wurde der Beitrag bis Dienstagnachmittag bereits geteilt. Anonymous lädt darin Menschen in der Ukraine und überall sonst auf der Welt ein, eine 5-Sterne-Bewertung abzugeben, sofern es sich nicht um ein staatliches Unternehmen handle. Auch eine Textvorlage auf Russisch wird vorgegeben: «Es war sehr nett, allerdings hat Putin uns den Appetit durch den Einmarsch in die Ukraine verdorben. Erhebt euch gegen euren Diktator, hört auf, unschuldige Menschen zu töten! Eure Regierung lügt euch an.»
Aus aller Welt posten Userinnen und User Screenshots ihrer bewerteten Restaurants, hängen Fotos vom Krieg, den verwüsteten ukrainischen Städten und den Demonstrationen in Europa an. «Ich habe heute schon neun Mal in Moskau gefrühstückt», berichtet eine Nutzerin. Andere überlegen sich weitere Möglichkeiten: User «Anonleaks» empfiehlt, die entsprechenden Informationen in den eigenen Tinder-Profiltext zu stellen.«Und dann gebt ihr als Standort Russland ein und ändert ihn stündlich.»
Die Demonstration im Netz
Myriam Dunn Cavelty (45) vom Center for Security Studies der ETH Zürich sieht den zivilen Aufstand im Netz als eine Art Demonstration. «Aber halt eine, die nicht in Bern oder Zürich stattfindet, sondern online.»
Die Expertin für Cybersicherheit entscheidet bei Cyberattacken klar zwischen der strategisch-militärischen Dimension, die vom Staat angeordnet werden, und den vielen Nebenschauplätzen im Netz, bei denen alle mitmachen können. Bei den militärischen Einsätzen des Staates gehe es um gezielte Attacken auf die Infrastrukturen des Gegners, um ihn zu stören oder zu verlangsamen, sagt Dunn Cavelty.
Russland gilt als Vorreiter der elektronischen Kriegsführung und ist berüchtigt für Cyberattacken. Schon seit vielen Jahren sind russische Hacker im ukrainischen Cyberspace unterwegs. Bereits 2016 wurde der Erpressungstrojaner «Petay/NotPetya» bekannt, der sich aus der Ukraine in der ganzen Welt verbreitet hatte – einer der teuersten Cybervorfälle aller Zeiten – und gesteuert vom russischen Geheimdienst, wie Dunn Cavelty bestätigt.
Die jüngsten Attacken gegen ukrainische Banken und das Verteidigungsministerium Mitte Februar seien hingegen weniger ausgeklügelt gewesen. Dunn Cavelty vermutet: «Es ging dabei wohl vor allem darum, Angst und Verwirrung zu stiften.» Dahinter müsse nicht zwingend ein staatlicher Akteur stehen. «Es gibt genügend Hacker, die das auch ohne Anleitung tun.»
Staatssender lahmgelegt
Die häufigste Waffe der Online-Kämpfer: sogenannte DDoS-Angriffe, bei denen eine Website lahmgelegt wird. «Das erzielt einen sichtbaren Effekt und hat deshalb eine gewisse psychologische Wirkung», erklärt Dunn Cavelty. Gezielte Hackerangriffe, die eine ähnliche Wirkung wie eine Bombe entfalten, werde es jedoch sehr wahrscheinlich nie geben.
In den letzten Tagen hatten Hacker die Website des russischen Staatssenders RT News sowie zahlreiche Internetanbieter der russischen Regierung lahmgelegt. Anonymous, das Russland nach Beginn der Invasion offiziell den Cyberkrieg erklärt hatte, bekannte sich zu den Angriffen.
Die zivilen Cyberattacken, wie die Restaurantbewertungen, gäben der Bevölkerung ein Gefühl, helfen zu können, so Dunn Cavelty. «Sie sind zwar nicht sonderlich wirkungsvoll, doch schaden sie auch nicht.» Dennoch: Gemäss Dunn Cavelty bestehe keine Gefahr, mit der Aktion falsche Signale zu senden oder eine Eskalation hervorzurufen. Schliesslich seien beide Seiten in diesen Cyberkrieg involviert.