Die FDP warf der Konkurrenz «Arbeitsverweigerung» vor, die SP höhnte: «Kabarett». Einig war man sich nur in einem Punkt: Was sich in der letzten Woche der Sommersession in Bern abgespielt hatte, war nicht gerade eine Glanzstunde des Parlaments.
Sondersitzung nach einer Stunde vorbei
Doch der Reihe nach: Nachdem der Nationalrat seiner Sozialkommission mit hauchdünner Mehrheit den Auftrag erteilt hatte, einen Gegenvorschlag zur FDP-Renten-Initiative auszuarbeiten, die eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters verlangt, traf man sich am vergangenen Montag zu einer eilends einberufenen Sondersitzung.
Obwohl 90 Minuten eingeplant waren, dauerte das Treffen nicht einmal eine Stunde. Und noch bevor sämtliche Anträge vorgestellt werden konnten, verliessen die Kommissionsmitglieder der Mitte den Raum. Sie mussten sich noch um die Nominationen ihrer Partei für die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) kümmern.
Bis dahin hatte in der Kommission keine Gegenvorschlags-Variante eine Mehrheit gefunden. Die Mitte verweigerte ein Modell, bei dem das Rentenalter an die Beschäftigungsjahre gekoppelt worden wäre – obwohl die ehemalige Mitte- Nationalrätin Ruth Humbel genau dies in einem Postulat gefordert hatte. Die SVP wollte von einer Schuldenbremse plötzlich gar nichts mehr wissen. Kurz: Das Treffen blieb ergebnislos. Arbeitsverweigerung, Kabarett?
Schon tags darauf versuchte Andri Silberschmidt (29, FDP) in der grossen Kammer zu retten, was nicht mehr zu retten war. Nichts tun sei doch keine Lösung, schmetterte der jüngste Parlamentarier in den Nationalratssaal. Abermals warnte er davor, dass die AHV ohne rasches Handeln längerfristig vor dem finanziellen Abgrund stehen werde.
Zuvor äusserte bereits Silberschmidts Parteifreundin Regine Sauter (57) scharfe Kritik. Der Rat scheine nach der Devise zu verfahren, dass man sich vor den Wahlen im Herbst bloss nicht die Hände verbrennen wolle. Sauter mahnte: «Die AHV ist zu wichtig für solche Spielchen!» Allein, solche Voten verhallten unter der Bundeshauskuppel – der Nationalrat beschloss mit 140 gegen 42 Stimmen, die Renten-Initiative im nächsten März ohne indirekten Gegenvorschlag an die Urne zu bringen.
Moderate Erhöhung des Rentenalters werde die Renten sichern
Für die FDP ist damit das Worst-Case-Szenario eingetreten. Ausgerechnet im Wahljahr muss die Partei mit einem Anliegen auf Stimmenfang gehen, das in weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stösst. Wäre es zu einem Gegenvorschlag gekommen, hätten die Freisinnigen ihre 2019 aufgegleiste Renten-Initiative wohl zurückgezogen – mit dem Argument, dass die im letzten Jahr vom Volk angenommene AHV-Reform die Situation vorerst entschärft habe. Die jüngsten Ereignisse im Parlament machten diese Exit-Strategie nun zunichte.
Freilich sieht man das bei den Freisinnigen anders. Präsident Thierry Burkart (47), selbst Mitglied des Initiativkomitees: «Die FDP steht nach wie vor voll und ganz hinter der Renten-Initiative.» Eine moderate Erhöhung des Rentenalters werde die Renten der Babyboomer-Generation sichern. Es handle sich um eine echte Lösung gegen den Arbeitskräftemangel, die auch die Zuwanderung stark reduzieren würde. «Dass Teile der GLP und SVP in einem Wahljahr kalte Füsse bekommen, bestätigt uns noch mehr in unserer Haltung.»
FDP intern gespalten
Den Lead bei der Renten-Initiative haben die Jungfreisinnigen. Doch auch die Mutterpartei steht dahinter. Bei der Delegiertenversammlung im Januar 2020 hatte die FDP einstimmig beschlossen, ihrer Jungpartei beim Unterschriftensammeln für die Volksinitiative zu helfen. Im Initiativkomitee sitzen neben Burkart auch gestandene Parteigrössen wie FDP-Vize Philippe Nantermod (39), Ständerat Andrea Caroni (43), Christa Markwalder (47) oder Christian Wasserfallen (41).
Ganz geschlossen indes sind die Reihen nicht mehr. Gegenüber SonntagsBlick meint ein prominenter FDP-Nationalrat, die Initiative sei «zu extrem» formuliert. «So ist das Anliegen kaum mehrheitsfähig – es ist meiner Meinung nach tot.»
Wird die Renten-Initiative im Wahlherbst nun zum Klotz am Bein der FDP? Andri Silberschmidt widerspricht vehement: «Im Gegensatz zu den anderen Parteien erzählen wir vor den Wahlen nicht etwas anderes als nach den Wahlen.» Das Thema werde bei der Mobilisierung helfen: «Es wird ein Wahlbooster für die FDP!»
FDP muss vorsichtig vorgehen
Politgeograf Michael Hermann (51) teilt diese Einschätzung nur teilweise. «Es ist das richtige Anliegen für die richtige Partei.» Wenn die FDP im Oktober aber zu den Wahlsiegern gehören wolle, müsse sie auch jenseits ihrer Komfortzone punkten. Gerade für jene Wähler und Wählerinnen, die sie der SVP abspenstig machen möchte, wirke diese Initiative eher abschreckend. Da helfe es wenig, wenn Parteipräsident Thierry Burkart mit seinem härteren Kurs in Sachen Asyl genau in diesem Teich fischen wolle. Seine Vorgängerin erlitt Schiffbruch, als sie Ähnliches auf der anderen Seite versuchte. Petra Gössi (47) gab sich vor der Klima-Wahl 2019 betont umweltfreundlich – die progressiven Stimmen gingen trotzdem an die GLP. Hermann: «Man sollte nicht Themen besetzen, die andere besser beherrschen.»
Automatische Erhöhung des Rentenalters für die Grünen ein No-Go
Für die Linken ist die Renten-Initiative ein Geschenk, das man gerne annimmt. Grünen-Präsident Balthasar Glättli (51) sagt es eleganter: «Natürlich werden wir nicht aus Rücksicht auf den politischen Gegner einen Mantel des Schweigens darüber ausbreiten», man werde aber auch SVP und GLP nicht schonen. Die hätten mit ihrer ursprünglichen Unterstützung eines Gegenvorschlags im Parlament ihr wahres Gesicht gezeigt.
Für die Grünen komme eine automatische Erhöhung des Rentenalters aber niemals infrage. «Diesen Steilpass nehmen wir auf», sagt Glättli. «Aus dieser Sache kommen die Bürgerlichen so schnell nicht mehr raus.»
AHV wird von der FDP schlechtgeredet
Auch Mattea Meyer (35), Co-Präsidentin der SP, möchte in den kommenden Monaten lieber nicht in freisinnigen Schuhen stecken. «Sie wissen, dass ihr Anliegen an der Urne chancenlos ist», sagt die Zürcher Nationalrätin. Der Bundesrat werde bis 2026 ohnehin eine neue Reform ausarbeiten.
Die FDP rede die AHV nur schlecht, um den Leuten Angst zu machen und sie zu überzeugen, in private Vorsorgeprodukte zu investieren. «Dort verdienen sich dann Versicherungen eine goldene Nase», kritisiert Meyer. Der harte Kurs, den die FDP bei der Vorsorge oder auch im Asylbereich fahre, sei ein Versuch, die SVP zu kopieren. Dabei sei klar: «Eine Anbiederung hilft immer dem Original.»
Am Freitag trugen die Jungfreisinnigen auf dem Bundesplatz die AHV symbolisch zu Grabe. Es machte den Eindruck, als glaubten die Initiantinnen und Initianten selbst nicht mehr an ihre Wiederbelebungsmassnahme.