Worum geht es überhaupt?
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hatte Anfang April auf eine Beschwerde des Vereins Klimaseniorinnen hin eine Verletzung der Menschenrechtskonvention durch die Schweiz festgestellt. Das Land sei seinen Aufgaben beim Klimaschutz nicht nachgekommen. Der Staat müsse Einzelpersonen vor den Folgen des Klimawandels für Leben, Gesundheit und Lebensqualität schützen.
Was hat der Ständerat entschieden?
Nach der Verurteilung der Schweiz durch Gerichtshof in Strassburg muss der Bundesrat dem Ministerrat des Europarats eine Erklärung abliefern, wie er mit dem Urteil umgehen will. Der Ständerat will ihm dabei Leitplanken geben. Auf Initiative von Daniel Jositsch (59, SP) hat die kleine Kammer eine Erklärung mit dem Titel «Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus» verabschiedet.
Darin steht, dass das Gericht mit dem Klima-Urteil die Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überstrapaziert habe und es die demokratischen Entscheidungsprozesse achten müsse. Die Erklärung, die auf Antrag der Rechtskommission erfolgte, fordert zudem, dass der Bundesrat den Europarat darüber informiert, dass die Schweiz die Anforderungen des Urteils bereits erfülle.
Umstritten war vor allem, ob im Text explizit stehen soll, die Schweiz sehe keinen Anlass, dem Urteil weitere Folge zu geben. Es lagen zwei Einzelanträge vor, auf die Formulierung zu verzichten und einen abgeschwächten Text zu verabschieden.
Welche Varianten lagen auf dem Tisch?
Beim Streit ging es vor allem um die Frage, was genau der Bundesrat dem Europarat – dieser ist das verantwortliche politische Gremium des EGMR – als Reaktion auf das Urteil ausrichten soll.
- Die Originalversion der Rechtskommission lautete: «… dass die Schweiz daher keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 09. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind».
- Einem Teil des Ständerats ging das zu weit – weil man den Satz so verstehen könnte, dass die Schweiz das Urteil ignorieren würde. Die Luzerner Mitte-Ständerätin Andrea Gmür (59) beantragte, den Satz wie folgt zu ändern: «... dass die Schweiz ihre internationalen, völkerrechtlich verbindlichen Klimaverpflichtungen einhält».
- Das wiederum war dem Zuger FDP-Ständerat Matthias Michel (61) zu wenig. Darum schlug er folgende Formulierung vor: «… dass die Schweiz daher aufgrund der bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils als erfüllt betrachtet».
Durchgesetzt hat sich die härteste Variante, jene der Rechtskommission, die das Urteil ignorieren will. Dies, nachdem Gmür ihren Antrag im letzten Moment vor der Abstimmung zurückgezogen hatte.
Was besagt das Urteil aus Strassburg genau?
Auf den 260 Seiten wird die Schweiz verurteilt, weil sie das Recht auf Privatleben sowie das Recht auf ein faires Verfahren verletzt.
- Das Recht auf Privatleben umfasst auch die Gesundheit eines Menschen. Diese sieht das Gericht durch den Klimawandel bedroht. Und weil die Schweiz eine Pflicht hat, das Privatleben zu schützen, muss sie etwas gegen den Klimawandel tun. Doch dort seien Fehler unterlaufen, heisst es im Urteil. So habe man kein CO2-Budget erstellt (dieses rechnet aus, wieviel CO2 pro Kopf unter dem Strich verursacht werden darf, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen zu können) und die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht.
- Die zweite Verurteilung betrifft den Zugang zum Gericht. Die Seniorinnen wurden vor den Schweizer Gerichten nicht angehört. Auch das sei falsch gewesen, sagt das europäische Gericht.
Wie wurde das Urteil in der Schweiz aufgenommen?
Die Reaktionen decken ein riesiges Spektrum ab. SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer (36) bezeichnete das Urteil als «wegweisende Entscheidung für den Klimaschutz», die SVP hingegen sprach von einem «lächerlichen» Richterspruch und fordert, dass die Schweiz die Europäischen Menschenrechtskonvention kündigt. Davon will das Parlament nichts wissen. Die Erklärung des Ständerats zeigt aber, dass es ein grosses Unbehagen am Urteil gibt.
Wie geht es nun weiter?
Die Erklärung wird auch vom Nationalrat noch behandelt. Dessen Rechtskommission hat sich bereits dem Ständerat angeschlossen. Danach wird der Bundesrat definitiv entscheiden, was er tut, und Aussenminister Ignazio Cassis (63) muss die Stellungnahme der Schweiz im Ministerrat des Europarats vertreten. Rein rechtlich kann das Parlament den Bundesrat zwar nicht zwingen, seine Haltung zu übernehmen, aber das politische Signal ist klar.
Ist der Ministerrat nicht zufrieden mit der Erklärung der Schweiz, wird die Nichtumsetzung immer wieder zum Thema dort. Im schlimmsten Fall kann das Ministerkomitee einem Staat das Recht auf Vertretung im Europarat entziehen oder ihn auffordern, seinen Austritt aus der EMRK zu erklären. Allerdings: Beide Mittel sind bisher noch in keinem Fall zum Einsatz gekommen.
Wie reagieren die Klimaseniorinnen?
Schon vor dem Entscheid des Ständerates wurden die Klimaseniorinnen deutlich. «Wir erwarten vom Bundesrat, dass er die Institutionen und den Rechtsstaat konsequent schützt und einer allfälligen Erklärung des Ständerats keine Folge leistet», sagte Rosmarie Wydler-Wälti (72), Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen. Sollte dies nicht eintreffen, wollen die Klimaseniorinnen das Ministerkomitee des Europarates einschalten und dieses über «jegliche Entwicklungen und Unterlassungen in der Schweiz informieren».