Sprüche wie «Geh doch dahin zurück, wo du hergekommen bist», übelste Schimpfwörter und sogar Handgreiflichkeiten von Mitschülern waren für Milo* (13) aus dem Kanton St.Gallen Alltag. Auch Schikanen des Klassenlehrers waren in der Primarschule ebenfalls normal. Wehrte er sich, wurde er von der Schuldirektion bestraft. Irgendwann liess er den Horror einfach über sich ergehen.
Die psychische Belastung ist gross. Milo schläft unruhig, nässt sich nachts ein und zerkratzt im Schlaf das lederne Kopfteil seines Betts – Symptome von psychischem Stress. «Ich hatte immer Angst vor dem nächsten Tag», erzählt er dem SonntagsBlick. «Wie schlimm wird es heute?», sei morgens sein erster Gedanke gewesen.
Vor gut einem Jahr eskalierte die Situation für den jungen Schweizer: Beim Schullager schlägt ihn die männliche Begleitperson mit der Faust auf die Brust. Der Klassenlehrer hilft nicht und leugnet den Vorfall später sogar. Milo traut sich fünf Wochen lang nicht mehr in die Schule. Wieso ist ihm das alles passiert?
Die falsche Hautfarbe
Milo sei ein «Mischlingskind», sagt seine Mutter Camille* liebevoll, ebenso wie sein kleiner Bruder Lenni* (11). Sie selbst kommt aus Kamerun, zog mit 16 Jahren in den Aargau. Ihr Ehemann Mustafa* (55), Milos und Lennis Vater, hat türkische Wurzeln und lebt seit seinem siebten Lebensjahr in der Schweiz. Am Tisch sprechen die vier Mundart. Die Kinder und Camille haben Schweizer Pässe. Die Schweiz ist ihr Zuhause. Nur: Ihre Hautfarbe ist für manchen eine Provokation.
Neben der allgemeinen Fremdenfeindlichkeit ist Rassismus aufgrund der Hautfarbe immer noch die häufigste Diskriminierungsform in der Schweiz. Das zeigt ein Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und des Vereins Humanrights.ch, der heute Sonntag veröffentlicht wird. Insgesamt meldeten die 23 Beratungsstellen des Netzwerks 630 Fälle rassistischer Diskriminierung, das ist ein neuer Spitzenwert. 207-mal waren Schwarze betroffen.
Am häufigsten begegnet ihnen rassistische Diskriminierung bei der Arbeit, fast ebenso häufig in Bildungseinrichtungen. Auffällig ist, dass die gemeldeten Fälle an Schulen und Kitas stark zugenommen haben. Einerseits stehe das im Zusammenhang mit allgemein steigenden Fallzahlen an den Beratungsstellen, erklärt Gina Vega, Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus bei Humanrights.ch. 2021 bearbeiteten die Beratungsstellen 58 Fälle mehr als noch im Vorjahr. Der Grund: «Die Gesamtgesellschaft ist sensibilisierter. Dieser Trend ist auch an Schulen zu sehen. Sowohl Eltern als auch Kinder und Jugendliche haben mehr Bewusstsein für das, was sie erleben, und wollen etwas dagegen tun», sagt Vega.
Andererseits zeigten die Fälle im Kita- und Schulalter auch, wie dringend rassistische Diskriminierung als gesellschaftliches Problem betrachtet werden müsse. «Das Verhalten von Kindern ist ein Spiegel von dem, was an sie weitergegeben wird.» Insbesondere Eltern und Lehrpersonen müssten sich ihrer Vorbildrolle bewusst werden.
Diskriminierung in Schulen wird heruntergespielt
Das sieht auch Martine Brunschwig Graf (72) so, die Präsidentin der Rassismuskommission. Sie kritisiert: «Oftmals wird Diskriminierung als Beziehungsproblem zwischen den Schülern klassifiziert oder als Einzelfall abgetan, statt die Systematik dahinter zu verstehen.» Schulen seien oftmals nicht in der Lage, mit Diskriminierung umzugehen, da ihnen ein Konzept dafür fehle. Das Lehrpersonal sei nicht für solche Vorkommnisse ausgebildet. «In vielen Fällen sehen wir, dass Kinder und Eltern sich aus Angst vor weiterer Benachteiligung nicht an die Schuldirektion wenden. Das darf nicht sein – und muss vermieden werden», sagt Brunschwig Graf. Auch diese Lücke würde durch ein festgeschriebenes Konzept geschlossen werden.
Der Fall von Milo aus St. Gallen beweist, dass nicht alle Schulen der Bewältigung von Diskriminierung gewachsen sind. Nachdem sich Mustafa und Camille an die Schuldirektion gewandt hatten, wurde das Problem zunächst geleugnet und dann versucht, es unter den Tisch zu kehren.
Auf Schreiben der Eltern wurde monatelang nicht geantwortet. Erst mithilfe eines Anwalts, einer Beratungsstelle sowie einer Mediatorin konnte man den Konflikt lösen. Für Milo jedoch war ein Schlussstrich nötig: Vor sechs Monaten wechselte er an die Oberstufe einer anderen Schule.
* Namen geändert