Heute Montagmorgen trifft sich der Bundesrat zur Krisensitzung, um das Treffen von Bundespräsident Guy Parmelin (61, SVP) mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (62) vorzubereiten. Dieses findet am Freitag in Brüssel statt. Es könnte den letzten Akt im Trauerspiel ums Rahmenabkommen einleiten.
Seit Mai 2014 feilschen Bern und Brüssel mit wechselnden Unterhändlern um das Abkommen. Auch die Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu (60) und die stellvertretende Kabinettschefin der EU-Kommission, Stéphanie Riso (45), haben in den strittigen Punkten keine Lösung gefunden.
Grosser Knackpunkt Unionsbürgerschaft
Nun setzt der Bundesrat alles auf die Karte Parmelin. Der Waadtländer soll abklopfen, ob das Abkommen noch zu retten ist, und mit von der Leyen allenfalls Auswege aus der bilateralen Sackgasse finden.
Schwierig wird das vor allem bei der Unionsbürgerrichtlinie. Diese hätte weitreichende Folgen: EU-Bürger würden einfacher und schneller Schweizer Sozialhilfe erhalten. Zudem würde die Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative verunmöglicht. Deshalb will die Schweiz, dass die Richtlinie explizit ausgenommen wird – was die EU ablehnt.
Gastkommentar zum Rahmenabkommen
Dass die Richtlinie im Entwurf des Rahmenabkommens nicht erwähnt wird, reicht der Schweiz nicht. Sie fürchtet, dass die EU unser Land nach Unterzeichnung des Abkommens zwingt, die Richtlinie zu übernehmen.
Die Schweiz diskriminiert Osteuropäer
Doch nun zeichnet sich ein Ausweg ab – und der führt über den Osten: Noch immer ist es so, dass Bürger der 13 neuen EU-Mitgliedsstaaten aus Ost- und Südosteuropa gegenüber Bürgern der «alten» EU-Länder hierzulande benachteiligt sind. Nicht nur das: Selbst Kanadier und US-Amerikaner haben schneller mehr Rechte in der Schweiz als EU-Osteuropäer!
Die estnische IT-Fachexpertin, die in der Schweiz arbeitet, kann erst nach zehn Jahren eine zeitlich unbeschränkte Niederlassung, den C-Ausweis, beantragen. Die portugiesische Krankenschwester und der kanadische Waldarbeiter haben diese Möglichkeit schon fünf Jahre früher.
Diese Diskriminierung ihrer Bürger ärgert die osteuropäischen EU-Staaten seit Jahren. Zumal die Schweiz sie ganz einfach von selbst beseitigen könnte, das aber nie getan hat.
Ein möglicher Deal
Just dieses Versäumnis könnte zum Joker im Verhandlungspoker werden, wenn Parmelin zusammen mit Unterhändlerin Leu auf von der Leyen trifft. Der Bundespräsident könnte Brüssel die rasche Gleichstellung aller Mitgliedsstaaten in Aussicht stellen, heisst es in verschiedenen Parteien und Departementen. Und im Gegenzug darauf bestehen, dass die Unionsbürgerrichtlinie zumindest für die nächsten zehn Jahre kein Thema für die Schweiz wird.
Eine Anpassung der Niederlassungsfristen könnte zudem die Osteuropäer milder stimmen. Sie vor allem sind es, die genug haben vom Sonderzug für die Schweiz und sich darum stets besonders kompromisslos gezeigt.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
In den anderen beiden strittigen Punkten des Rahmenabkommens liege die Idee für eine Lösung auf dem Tisch, wie es heisst. Die Frage der Staatsbeihilfen hat durch die milliardenschweren Corona-Hilfspakete der EU ohnehin an Bedeutung verloren – denn in diese Beihilfen passen Schweizer Subventionen locker rein. Und beim Lohnschutz braucht es nur eine Lösung, die gut genug ist, um im Abstimmungskampf die Blockade der Gewerkschaften zu durchbrechen. Das scheint möglich.
Ob Brüssel sich darauf einlässt, ist eine andere Frage. Die Erwartungen an Parmelins Reise fallen daher unterschiedlich aus: Während die einen Departemente von einer «Bestandesaufnahme» sprechen, sagen andere, es gehe nur noch um Schadensbegrenzung – darum, ohne Gesichtsverlust aus der Sache rauszukommen.
Am ehesten ihr Gesicht wahren können beide Seiten aber, wenn es doch noch zu einer Einigung kommt, die eine Unterzeichnung erlaubt. Dafür muss sich Brüssel jedoch bei der Unionsbürgerrichtlinie bewegen. Eine kleine Hoffnung darauf besteht. «Die Politik kann immer mehr erreichen als die Verhandlungstechniker», so ein hochrangiger Beamter.
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