Bundeshaus Ost, Erdgeschoss. Roberto Balzaretti (54) zuckt mit den Schultern. Und lächelt sein Lausbubenlächeln, für das der Staatssekretär von Bern bis Brüssel nur all zu bekannt ist. Was den Chef der Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA) zum Schulterzucken und Lausbubengrinsen bringt? Die Bezeichnung «Kofferträger des Schweizer EU-Beitritts».
Kofferträger war er im wahrsten Sinne – vor 27 Jahren: Der Mann, der 2018 als Chefunterhändler das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union verhandelte und es jetzt hierzulande verteidigen muss, übergab 1992 das Beitrittsgesuch der Schweiz an die EU. In einem Aktenkoffer.
Für die Schweiz ein historischer Moment. Für den damaligen Praktikanten Balzaretti prägend. «Dabei konnte ich gar nichts dafür. Der damalige Botschafter Benedikt von Tscharner wollte den Jüngsten mit dabei haben. Und das war halt ich», erinnert sich Roberto Balzaretti beim Gespräch in seinem grosszügigen Berner Büro. Private Fotos zieren die zwei Arbeitspulte – sie zeigen den fünffachen Vater kuschelnd mit seinen Liebsten.
Der Gedanke an seine Familie gibt ihm Kraft. Und die braucht er auch: Balzaretti hat den derzeit wohl schwierigsten Job der Schweiz. «Äusserst europhil», bezeichnen SVP-Aussenpolitiker wie Roland Rino Büchel (53) den Staatssekretär im Aussendepartement EDA – und meinen es als Beschimpfung. Balzaretti wehrt sich gegen den Stempel des Euroturbos, den er seit 1992 nicht los wird. «Wenn schon, dann bin ich ein Schweiz-Turbo.»
BLICK: Das EU-Rahmenabkommen ist von allen Seiten unter Beschuss – die SVP sieht darin einen schleichenden EU-Beitritt, die SP ist auch nicht mehr im Boot – und s ogar Gewerbeverbands-Direktor Hans-Ulrich Bigler (60) ist dagegen, dass der Bundesrat unterschreibt. Haben Sie schlecht verhandelt, Herr Staatssekretär?
Roberto Balzaretti: Ich habe nicht alles erreicht, was der Bundesrat sich wünschte. Das stimmt. Nicht alles zu bekommen, liegt aber in der Natur einer Verhandlung. Jetzt müssen wir aber trotzdem schauen, ob das Abkommen, das wir auf dem Tisch haben, insgesamt gut genug ist für das Volk. Die Schweiz geht nicht unter ohne das Rahmenabkommen. Die EU auch nicht. Es ist aber wie bei einer Uhr: Alle zehn Jahre öffnet man sie und schaut, dass die Räder richtig drehen. Wenn wir die Uhr, also unsere Verträge mit der EU, nicht revidieren, dann wird sie ein Weilchen weiterticken. Aber irgendwann – und das dann plötzlich – wird sie nicht mehr zuverlässig sein.
FDP-Bundesrat Ignazio Cassis (57) hatte Balzaretti vor einem Jahr aus der Schweizer Mission in Brüssel in sein Departement nach Bern geholt – und damit die bisherige Staatssekretärin Pascale Baeriswyl (50) in Sachen Rahmenabkommen de facto entmachtet.
Er sollte den Reset-Knopf finden
Cassis' Kantonskollege Balzaretti sollte den berühmten Reset-Knopf finden. Der 191 Zentimeter grosse Doktor der Rechte sei der Bruce Willis der Schweizer Diplomatie, der undiplomatische Diplomat mit einem roten Taekwondo-Gurt, der Draufgänger-Verhandler mit Verführungskünsten. Dazu noch charmant und hochintelligent: Sein Ruf, den er sich in 28 Jahren diplomatischem Dienst erarbeitete, versprach viel.
Den Reset-Knopf fand auch er nicht. Stattdessen brachten Cassis und sein Chefunterhändler mit der drohenden Lockerung des Lohnschutzes die Gewerkschaftsbosse gegen sich auf. Und strapazierten mit immer neuen Deadlines die Nerven von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker (64).
Neuster Zeithorizont fürs Rahmenabkommen: Bis Ende Frühling – «also spätestens 21. Juni», wie Balzaretti zuletzt ankündigte – muss der Gesamtbundesrat Farbe bekennen. Sagt er Ja oder Nein zum 35-seitigen institutionellen Rahmenabkommen?
Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? «Der Meister und Margarita» von Michail Bulgakow. Das Buch schildert in satirischer Weise das Leben in Moskau unter der stalinistischen Diktatur – ein Meisterwerk. Ich habe es mit 13 oder 14 Jahren gleich drei- oder viermal gelesen. Das war prägend.
Ihre Lieblings-TV Serie? Ich habe gerne düstere, absurde Geschichten, liebe «Fargo» oder «True Detective». Und natürlich «House of Cards».
Wofür gegen Sie unvernünftig viel Geld aus? Autos. Selten gehe ich auf die Rennstrecke, die Geschwindigkeit, das Adrenalin: Sie sind meine Schwäche. Dort, wo man darf, fahre ich schnell.
Welchen Reisetraum wollen Sie sich erfüllen? Mit der ganzen Familie nach Thailand. Unsere drei Adoptivkinder sind dort geboren – und nie zurückgekehrt.
Welches Buch würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? «Der Meister und Margarita» von Michail Bulgakow. Das Buch schildert in satirischer Weise das Leben in Moskau unter der stalinistischen Diktatur – ein Meisterwerk. Ich habe es mit 13 oder 14 Jahren gleich drei- oder viermal gelesen. Das war prägend.
Ihre Lieblings-TV Serie? Ich habe gerne düstere, absurde Geschichten, liebe «Fargo» oder «True Detective». Und natürlich «House of Cards».
Wofür gegen Sie unvernünftig viel Geld aus? Autos. Selten gehe ich auf die Rennstrecke, die Geschwindigkeit, das Adrenalin: Sie sind meine Schwäche. Dort, wo man darf, fahre ich schnell.
Welchen Reisetraum wollen Sie sich erfüllen? Mit der ganzen Familie nach Thailand. Unsere drei Adoptivkinder sind dort geboren – und nie zurückgekehrt.
Der ehemalige Spitzendiplomat Jakob Kellenberger (74) lobt Balzarettis Arbeit: «Roberto hat ein gutes Abkommen verhandelt. Ich weiss nicht, ob es irgendwo auf der Welt einen Unterhändler gibt, der mehr heimgebracht hätte, als Roberto es geschafft hat.»
Trotzdem: Balzarettis Chancen stehen schlecht. Aufweichung der flankierenden Massnahmen, fremde Richter, dynamische Rechtsübernahme oder die drohende Unionsbürgerrichtlinie: Sein kampfsportgestähltes Verhandlungsgeschick reichte nicht, um in den Kernthemen die Schweizer Position in Brüssel durchzusetzen. Die Unbezwingbarkeit, beim Taekwondo als «Baekjul-bool-gul» fünfter Grundsatz, will mit der EU einfach nicht klappen. Gebrauchen kann Balzaretti derzeit vor allem den zweiten: «In-Nae», das Durchhaltevermögen.
BLICK: Haben Sie persönlich das Gefühl, gescheitert zu sein?
Roberto Balzaretti: Im Gegenteil! Wir haben in weiten Teilen ein gutes Resultat erzielt und unsere roten Linien verteidigt, wobei diese aufzugeben nicht in unserem Mandat lag. Ohne sie hätte man ein Ergebnis – aber eines, das für die Schweiz nicht akzeptabel wäre.
Nein, nein, nein. Unzufrieden mit seiner Leistung sei er nicht, wiederholt Roberto Balzaretti immer wieder im Gespräch. Wie will er denn jetzt das Rahmenabkommen aus der Sackgasse holen? Das könne er gar nicht, sagt Balzaretti und zeichnet dabei Kreise und Kurven auf dem Notizbuch vor sich. «Ich als Technokrat kann nichts lösen, sondern nur aufzeigen, wie weit ich und meine Kollegen gegangen sind und was die Optionen sind.» Nein, er sei nicht der Verkäufer des Rahmenabkommens, betont der Sohn eines Handelsreisenden, der zeitlebens Güter verkaufte. Balzaretti: «Wenn schon, bin ich ein Erklärer.»
Der für sein Selbstbewusstsein berühmte Tessiner nimmt sich in Bundesbern bewusst zurück. Und macht sich mit diesem Selbstverständnis zumindest im Parlament Freunde. Elisabeth Schneider-Schneiter (54, CVP), Präsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats: «Im Gegensatz zu seinen Vorgängern begegnet Roberto Balzaretti uns Parlamentariern auf Augenhöhe.»
Balzaretti sei nicht belehrend und mache keine Politik, anders als seine direkte Vorgängerin Baeriswyl, die nie einen Hehl aus ihrer sozialdemokratischen Haltung gemacht habe. «Früher wurde uns ständig beteuert, die Verhandlungen seien nächstens fertig», so Schneider-Schneiter. «Roberto Balzaretti aber redet nichts schön.»
Balzarettis autistischer Sohn lehrte ihn «brutale Ehrlichkeit»
«Keine Spielchen. Keine Tricks. Brutale Ehrlichkeit», sagt Balzaretti und gestikuliert mit den grossen, perfekt manikürten Händen. Diese Lebenshaltung habe sein Sohn Arun (24) ihn gelehrt. «Er war dreijährig, und wir waren in Washington stationiert. Da erfuhren wir, dass er Autist ist. Wir wurden völlig auf uns selbst zurückgeworfen: Da hast du die Diagnose. Und jetzt? Es begann ein langer Kampf. Und meine Frau kämpfte fantastisch», erzählt Balzaretti. Heute ist Cristina Ferrari Balzaretti (56) Präsidentin des Vereins der Eltern autistischer Kinder im Waadtland. «Das Leben für Autisten in der Schweiz ist heute etwas besser – auch dank meiner Frau», sagt Balzaretti.
Roberto Balzaretti bezeichnet sich als «Menschenzugeher», ob er ein Menschenfreund sei, ergründe er noch immer. Seine Stärken? Offenheit und Selbstbewusstsein. Seine Schwächen? Offenheit und Selbstbewusstsein. Wann wurden dem unkonventionellen Diplomaten diese zum Verhängnis? «Im menschlichen Umgang, etwa früher mit Kollegen, bin ich über mein Selbstbewusstsein gestolpert. Die Leute in der DEA erleben heute schon einen anderen Balzaretti als früher», sagt er. Und schiebt nach: «Offenheit heisst aber nicht, alle wichtigen Elemente eines Verhandlungsdossiers bekannt zu geben – das ist Dummheit. Offenheit heisst, ehrlich zu sein.»
Balzarettis Studienfreund, der Tessiner FDP-Ständerat Fabio Abate (53), formuliert es so: «Als junger Mann habe ich ihn sehr selbstbewusst und überzeugend erlebt. Heute, mit dem erlangten Wissen und der Erfahrung, scheint er mir gereift und gefestigt. Er spricht klar und transparent.» Und Balzaretti meint: «Heute kann ich selbstbewusst sein, ohne andere blosszustellen.» Diese Eigenschaft wird vor allem von seinem Chef geschätzt, dem teils unbedarft auftretenden Aussenminister Cassis.
BLICK: Was ist das für eine Beziehung zwischen Ihnen und Cassis? Sie sind zwar gleich alt und sprechen den gleichen Dialekt , kennen sich aber erst seit einem Jahr . Trotzdem scheint eine besondere Nähe da zu sein – oder meint man das nur?
Roberto Balzaretti: Das stimmt. Es gibt diese Nähe. Es ist schon interessant, wie schnell wir uns verstanden. Bundesrat Cassis und ich brauchen keine Worte, um miteinander zu kommunizieren: Er weiss genau, was ich meine – und umgekehrt.
Kritiker unter der Bundeshauskuppel ächzen, Cassis rede seinem Direktor für europäische Angelegenheiten nach dem Mund. Seine Chefs vermochte Balzaretti schon früher zu verführen: Rund zehn Jahre stand er im Dienst von alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (73). «Er war ein äusserst geschätzter Mitarbeiter», sagt sie heute. Calmy-Rey hatte Balzaretti einst von einem knapp jährigen Ausflug zur Credit Suisse in Genf zurück in den Staatsdienst geholt. Heute treffen sich die einstige Förderin und Balzaretti mehrmals pro Jahr. Nach ihrer Amtszeit habe sich «eine Art Freundschaft» entwickelt.
BLICK: Die Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative sei für die EU etwa so gewesen, «wie wenn der Ehepartner einem plötzlich sagen würde, er habe seit zwanzig Jahren einen Liebhaber», meinten Sie. Ist 2019 die Ehe-Therapie gescheitert?
Es ist eher eine Partnerschaft, es gab ja keine Hochzeit. Die Schweiz ist jetzt dabei, herauszufinden, ob sie diese Beziehung so weiterführen möchte. Aber es ist sicher nicht das Ende der Beziehung: Wenn die EU mit allen Staaten auf der Welt dieselben Probleme hätte wie mit der Schweiz, dann wäre sie eine glückliche Partnerin.
Ach kommen Sie, bei der Börsenäquivalenz erpresst die EU die Schweiz. Das macht man doch nicht in einer guten Partnerschaft.
Das ist Machtausübung, keine Erpressung. Ja, die EU diskriminiert die Schweiz mit der temporären Anerkennung der Schweizer Börse, weil wir die technischen Voraussetzungen dieser Börsenäquivalenz ja erfüllen. Wenn wir nicht wollen, dass sich unser Verhältnis zur EU über Macht abwickelt, brauchen wir Recht. Und das würde ein Abkommen im institutionellen Bereich garantieren. Davon bin ich überzeugt, denn dann kann diese Macht nicht mehr ausgeübt werden.
Was würde es für Sie persönlich bedeuten, wenn der Bundesrat nach den Konsultationen das Rahmenabkommen versenkt?
Merde (lacht). Das war ein Witz. Persönlich? Der Weg ist das Ziel. Das ist keine Floskel. Es wäre eine Enttäuschung, wenn ich meine Arbeit nicht richtig und mit Vollblut gemacht hätte. Aber sonst sind das die Spielregeln. Das ist nicht das Ende der Geschichte.
Und Sie bleiben Mister Europa – auch wenn das Rahmenabkommen stirbt?
Mister Schweiz in Europa! (lacht). Das entscheidet dann der Bundesrat.