Offener Brief zur Umsetzung der Pflegeinitiative
Bundesrat verhält sich «unwürdig und verfassungswidrig»

Pflegenotstand, Personalmangel, Spitäler, die schliessen: Das Gesundheitswesen geht auf dem Zahnfleisch. Zwar läuft die Umsetzung der Pflegeinitiative, doch Sofortmassnahmen wurden keine umgesetzt. Politiker haben darum dem Bundesrat einen offenen Brief geschrieben.
Publiziert: 10.10.2023 um 21:39 Uhr
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Die Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt ...
Foto: Keystone
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Tobias OchsenbeinRedaktor Politik

Die Worte, adressiert an Bundespräsident und Gesundheitsminister Alain Berset (51), sind deutlich: «Es ist unverständlich und nicht nachvollziehbar, dass der Bundesrat bald zwei Jahre nach Annahme der Pflegeinitiative immer noch untätig ist, den unmissverständlich formulierten Volksauftrag in Artikel 197 Ziffer 13 Absatz 2 der Bundesverfassung ignoriert und dem eindeutigen Abstimmungsresultat mit Geringschätzung begegnet.»

Sie stammen aus der Feder der Zuger Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt (56) und von alt Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Verbands für Seniorenfragen (SVS), Rudolf Joder (73). Und diese Worte stehen in einem offenen Brief an den Gesamtbundesrat.

Gemäss der Bundesverfassung wäre der Bundesrat verpflichtet gewesen, innerhalb von 18 Monaten nach Annahme der Pflegeinitiative wirksame Massnahmen zur Behebung des Mangels an diplomierten Pflegefachpersonen in Kraft zu setzen.

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«Das ist verantwortungslos.»
Manuela Weichelt, Grünen-Nationalrätin
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«Die 18 Monate sind vorbei und der Bundesrat hat bisher keine wirksamen Massnahmen getroffen», resümiert Weichelt. Mit dem verfassungswidrigen Vorgehen der Landesregierung würden Pflegesicherheit und Pflegequalität aufs Spiel gesetzt. «Das ist verantwortungslos», sagt sie. Und Joder doppelt nach: «Der Bundesrat macht nichts und begründet dann nicht einmal seine Untätigkeit. Das ist absolut inakzeptabel in einer Demokratie wie der Schweiz.»

Die beiden beziehen sich auf die Antwort des Bundesrats auf eine Motion und eine entsprechende Frage Weichelts Ende September in der Herbstsession. Darin stellte sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass der Handlungsspielraum für Sofortmassnahmen gering sei. Und: Das Ausarbeiten von Übergangsrecht, das ohnehin nur für kurze Zeit in Kraft gewesen wäre, hätte zu viele Ressourcen gebunden und die Ausarbeitung der Umsetzungsbotschaft massgeblich verzögert.

Doch für die Politiker geht es nicht an, dass der zurücktretende Gesundheitsminister sich mit dieser Ausrede aus der Affäre zu ziehen versucht. Das sei einer Landesregierung «unwürdig», schreiben sie. Auch wenn Berset offenbar vor seinem Abgang keine Stricke mehr zerreissen will, ist er verpflichtet zu handeln.

Gemäss Arbeitsgesetz hätte es der Bundesrat in der Hand, jederzeit per Verordnung mit Sofortmassnahmen die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal bei der Überzeit, Nachtarbeit, Schichtarbeit, Sonntagsarbeit und bei der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu verbessern. So würde er zumindest im Ansatz versuchen, dem Volkswillen zu gehorchen und die gravierendsten Auswirkungen des Pflegenotstandes zu mildern.

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«Es wäre ein sehr wichtiges Signal an Pflegende und Institutionen.»
Rudolf Joder, Präsident des SVS
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«Mit den Übergangsbestimmungen könnte der Bundesrat zeitlich begrenzte Standards formulieren, bis die gesetzlichen Bestimmungen in Kraft treten. Es wäre ein sehr wichtiges Signal an Pflegende und Institutionen, dass der Bundesrat mithelfen will, das Personalproblem zu lösen», sagt Joder.

Bundesgesetz im Frühling 2024 aufgegleist

Das Einzige, was noch bleibe, sollte die Antwort auf den Brief wieder unbefriedigend ausfallen und der Bundesrat Verfassung und Gesetz weiterhin nicht einhalten, sei eine Aufsichtsbeschwerde bei der Geschäftsprüfungskommission (GPK), sagt Weichelt. Diese werde auf dem Fuss folgen, bleibe die Landesregierung untätig.

61 Prozent der Stimmbevölkerung (und bis auf Appenzell-Innerrhoden alle Kantone) sagten im November 2021 Ja zur Pflege-Initiative. Die erste Etappe der Umsetzung der Pflegeinitiative – eine Ausbildungsoffensive von Bund und Kantonen im Wert von bis zu einer Milliarde Franken – ist bereits beschlossen.

Die zweite Etappe hat der Bundesrat faktisch auf die lange Bank geschoben. Er goss diese in ein neues Bundesgesetz über die anforderungsgerechten Arbeitsbedingungen in der Pflege. Erst im Frühling 2024 soll dieses Bundesgesetz aufgegleist sein. Frühestens im Sommer könnte es in Kraft treten. Bis dahin soll sich für die Pflegenden rein gar nichts ändern. Alain Berset hingegen ist dann längst nicht mehr im Amt.

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