Eine Branche geht auf dem Zahnfleisch
«Über 300 Pflegende hängen im Monat den Kittel an den Haken»

Die Pflegeberufe sind überlastet. Eigentlich sollte die 2021 angenommene Pflege-Initiative Abhilfe verschaffen. Aber davon spüren die Pflegenden bisher nichts – im Gegenteil.
Publiziert: 09.08.2023 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 09.08.2023 um 19:21 Uhr
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Die stellvertretende Geschäftsführerin des Pflegeverbands, Christina Schumacher, kämpft gegen ein «unhaltbares System».
Foto: SBK
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Robin BäniRedaktor

Christina Schumacher (44) kann nicht mehr. Sie will sich an ihrem ersten freien Tag nach fünf Spätschichten erholen. Aber dann leuchtet das Handy auf: «Kannst du heute im Spätdienst einspringen?» Die Nachricht stürzt die diplomierte Pflegefachfrau in ein Dilemma. Sagt sie ab, sind ihre Arbeitskolleginnen überlastet, ist die Versorgung der Patienten gefährdet. Sagt sie zu, betreibt sie «Raubbau an ihrer Gesundheit» und unterstützt ein «unhaltbares System», wie sie selbst sagt.

Schumacher will weder, dass ein Patient zu Schaden kommt noch, dass ein Kollege zusammenbricht. Also blendet sie die Müdigkeit aus, bindet sich die Schuhe und geht ins Spital. «Das Berufsethos von Pflegenden verbietet es, wegzuschauen», sagt sie. Nicht einzuspringen sei keine Option – und deshalb gäben viele den Beruf gleich ganz auf.

So viele Pflegende steigen jährlich aus

Gesicherte Zahlen dazu, wie viele Pflegende aussteigen, existieren nicht. Ab Mitte 2024 will der Bund ein Monitoring einführen. Derweil hat der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK) 2022 die Anzahl offener Stellen ausgewertet und kommt zum Schluss: «Monatlich hängen über 300 Pflegende den Kittel an den Haken.» In der Branche spricht man vom «Pflege-Exodus» oder «Pflexit».

Das Personal in den Gesundheitseinrichtungen steht unter Druck. Als stellvertretende Geschäftsführerin des SBK sagt Schumacher: «Wir sind bereits bei voller Besetzung auf Kante genäht.» Komme etwas dazwischen, gebe es keinen Plan B, ausser jemand springe ein. «Und es kommt immer etwas dazwischen.»

Eine Milliarde allein genügt nicht

Das kann das System eigentlich nicht verkraften. Bis 2029 brauchen Spitäler, Spitex und Alters- und Pflegeheime nicht weniger als 36’500 zusätzliche Pflege- und Betreuungspersonen.

Um diesen Bedarf zu decken, hat das Parlament eine Ausbildungsoffensive verabschiedet, für die während acht Jahren bis zu einer Milliarde Franken vorgesehen sind. Doch das genügt nicht, finden Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und kantonale Gesundheitsdirektoren. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie, es brauche längerfristige Massnahmen, um die Personallücke zu schliessen.

Kantone kontrollieren zu lasch

So weiter wie bisher sei jedenfalls keine Lösung. Denn: «Das geltende Arbeitsrecht wird flächendeckend verletzt», sagt Pierre-André Wagner (62), Leiter des Rechtsdienstes beim SBK. Ruhe- und Arbeitszeiten würden nicht eingehalten, Arbeitgeber kämen ihrer Fürsorgepflicht nicht nach. Und: «Die kantonalen Arbeitsinspektorate legen keinen Wert auf die Um- und Durchsetzung des Arbeitsgesetzes.»

Und das trotz deutlichem Ja zur Pflege-Initiative, die derzeit umgesetzt wird. Das erste Paket, die Ausbildungsoffensive, soll 2024 anlaufen. Aber dadurch wird das System nicht sofort entlastet, da neues Personal erst ausgebildet werden muss. Das zweite Paket, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, kommt 2024 in die Vernehmlassung – und bis zur Umsetzung kann es noch Jahre dauern. «Bis dann arbeitet niemand mehr in der Pflege», sagt Schumacher bewusst zugespitzt. «Seit Annahme der Initiative hat sich für die Pflegenden nichts getan.»

Die diplomierte Pflegefachfrau und ihr Verband fordern, dass der Bund die Vernehmlassung verkürzt. Zudem sollen die Kantone Sofortmassnahmen ergreifen, darunter eine «tatsächliche Erfassung und Abgeltung der Arbeitszeit». Sonst drehe die Abwärtsspirale weiter, so Schumacher: «Pflegende schmeissen den Job hin und der Druck auf die Verbliebenen steigt.»

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