Spitäler schlagen Alarm: Schon wieder müssen Patienten verlegt und Operationen verschoben werden. Nach zwei Jahren Corona-Überlastung ist es nun der Personalmangel, der zum Notstand im Gesundheitsweisen führt. Rund 300 Pflegende würden pro Monat dem Beruf den Rücken kehren, sagte Pierre-André Wagner (61), Leiter des Rechtsdienstes des Schweizer Berufsverbands der Pflege (SBK), zu Blick.
Tatsächlich gibt es gemäss Schweizer Jobradar in keiner anderen Branche so viele unbesetzte Stellen. Ende letztes Jahr waren 12’300 Pflegejobs offen. Im dritten Quartal 2022 waren es bereits 14’828. Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht, dass einige Spitäler für die Rekrutierung aufs Ausland ausweichen müssen. Das Kantonsspital Aarau etwa will mit einer Rekrutierungsfirma Fachkräfte aus Italien anwerben, wie die «Aargauer Zeitung» berichtet.
«Plegecasting» macht Schule
Im grössten Spital des Kantons sind derzeit 86 Betten von 500 gesperrt, weil es schlicht an Personal fehlt. So fliegt eine Delegation des Spitals nach Rom, um die Personallücke zu schliessen. Und die Betten wieder betreiben zu können. Ende November sind 30 Vorstellungsgespräche geplant.
«Pflegecasting» nennt das Spital das Ganze. «Es ist eine Möglichkeit, um auf dem ausgetrockneten Markt, Personal zu rekrutieren», sagt Fabio Blasi, Leiter Personalgewinnung. Italienerinnen können sich bereits online bewerben. Überzeugen sie im Vorstellungsgespräch, locken eine unbefristete Anstellung, 25 bis 30 Tage Ferien pro Jahr und ein Bruttolohn zwischen 5500 und 6500 Franken.
Yvonne Ribi (45), Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflege, sind solche Fälle bekannt. «Wir hören von verschiedenen Institutionen, die Personal aus dem Ausland rekrutieren. Diese haben Partnerschaften auf der ganzen Welt», sagt sie. «Sie holen Leute zum Teil sogar aus China oder von den Philippinen in die Schweiz.» Das Problem: «Das Fachpersonal, das man aus dem Ausland in die Schweiz holt, fehlt in den eigenen Ländern.»
Es geht auch anders
Schweizweite Vorreiter in Sachen Bekämpfung des Pflegenotstandes sind etwa das Regionalspital in Wetzikon ZH oder die Berner Siloah-Gruppe. Sie haben andere Ansätze als die Rekrutierung im Ausland. In Wetzikon wurden die Pensen der Pflegenden auf Stationen mit drei Schichten im Juni um 10 Prozent gesenkt. Neu müssen sie nur noch 37,8 Stunden pro Woche arbeiten. Das macht aufs Jahr gerechnet 24 Arbeitstage weniger – bei gleichem Lohn.
Beim Spital Wetzikon gibt man sich nach den ersten paar Monaten der Einführung vorsichtig optimistisch: Aufgrund der zusätzlichen Freitage hätten mehr Mitarbeitende als erwartet ihr Teilzeitpensum erhöht. Auch würden seit Juni 2022 weniger Pflegende temporär arbeiten. Genaue Zahlen würden jedoch erst Anfang 2023 vorliegen.
Weniger Temporäre
Auch die Siloah-Gruppe, die im Bereich Altersmedizin 95 Spital- und 270 Heimbetten betreibt, hat bei gleichem Lohn die Arbeitszeit reduziert. Seit Juli gilt anstatt einer 42-Stunden- eine 40-Stunden-Woche. Ab 2024 soll die Arbeitszeit auf 38 Stunden pro Woche sinken.
Siloah-Präsident Martin Gafner bestätigt auf Anfrage, dass die Einführung der 40-Stunden-Woche Wirkung gezeigt habe. «Die Zahl der Temporärangestellten, insbesondere im Bereich der Langzeitpflege, ist gegenüber dem ersten Halbjahr klar zurückgegangen», so Gafner. Dies sei auch das primäre Ziel der Massnahme gewesen. Austritte gebe es zwar immer noch, jedoch konnte die Siloah-Gruppe im zweiten Halbjahr deutlich mehr Neueinstellungen vornehmen. Dadurch hätten sie auch einige geschlossene Betten bereits wieder belegen können.
Spitäler fahren günstiger
Das rechnet sich auch für die Spitäler. Denn insbesondere der Trend zu Temporärarbeit kommt die Spitäler teuer zu stehen: Temporärangestellte kosten deutlich mehr als fest angestellte Mitarbeitende. Es werden Aufschläge von bis zu 50 Prozent bezahlt.
Auch die Arbeitszufriedenheit der Pflegenden steigt: Laut Roland Brunner von der Gewerkschaft VPOD habe man von den Mitgliedern, die am Spital Wetzikon arbeiteten, grossmehrheitlich positive Rückmeldungen erhalten.
Personalmangel bleibt Problem
Das Problem des Personalmangels sei jedoch noch nicht automatisch behoben. Ausserdem habe die insgesamt positive Massnahme auch Schattenseiten. So prangert Brunner an, dass etwa der Anspruch auf Arbeitszeitreduktion gestrichen würde, wenn jemand drei Wochen krank oder verunfallt sei.
Auch Ribi zieht eine durchzogene Bilanz. So findet sie die Massnahmen «gut und richtig», sie seien jedoch zu kurz gedacht. Denn es gebe Betriebe, die zwar ebenfalls einen riesigen Personalmangel, aber nicht die Mittel für ähnliche Massnahmen hätten. «Es braucht flächendeckende Sofortmassnahmen, die dazu führen, dass das Pflegepersonal im Beruf bleibt», fordert Ribi. Dafür seien die Kantone gefragt, die Sofortmassnahmen umsetzen müssten, bis die Pflege-Initiative greife.