Sie verfolgen seit Jahren die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation der Spitäler. Wie sieht es aus?
Philip Sommer: Die Situation ist kritisch. Massgebend für die Wirtschaftlichkeit ist der EBITDAR, also der Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen, Amortisationen und Miete. Die Miete nehmen wir rein, weil viele Spitäler die Infrastruktur mieten. Wir sind der Meinung, dass ein Spital einen EBITDAR von 10 Prozent haben sollte, damit es langfristig in der Lage ist, die notwendigen Investitionen zu tätigen. Die Profitabilität der Spitäler ist seit Jahren unter diesem Zielwert und nun ist sie weiter abgesunken.
Wie sind die Zahlen für 2022?
Wir schauen uns jeweils die Geschäftsberichte der gut 40 grössten Schweizer Spitäler an, die zusammen rund 80 Prozent des stationären Marktes ausmachen. Für 2022 liegen bis jetzt 34 der Unterlagen vor. Bis jetzt haben erst 4 Einrichtungen einen EBITDAR von 10 Prozent oder mehr. Das ist beunruhigend. Wenn wir so weitermachen, dann werden wir in ein paar Jahren Spitäler retten, so wie wir heute Bailouts für Banken machen. Die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen werden über Eigenkapitalerhöhungen das Geld einschiessen müssen, welches heute den Spitälern fehlt.
Die Krankenkassen sagen: Druck muss sein, sonst werden die Spitäler nie effizienter.
Das ist im Prinzip richtig. Spitäler können und sollen effizienter werden. Die Schweiz hat immer noch viele Spitäler, die es so nicht alle in der heutigen Form benötigt. Aber es ist eine Gratwanderung und im Moment ist der finanzielle Druck meiner Meinung nach zu hoch. Angesichts der Inflation, der Pflegeinitiative und der Entwicklung der Medizin sind die Tarife zu tief und insbesondere im ambulanten Bereich veraltet. Zudem ist es ja nicht so, dass die Kosten eingespart werden. Viele Kantone, vor allem in der Westschweiz, greifen ihren Spitälern massiv unter die Arme, indem diese gemeinwirtschaftlichen Leistungen erhöhen oder Eigenkapitalerhöhungen durchführen. Es gibt also lediglich eine Verschiebung der Kosten von den Krankenkassen zu den Steuerzahlern. Das ist ein Nullsummenspiel. Zudem stimmen die Anreize nicht.
Inwiefern?
Mit einer konsequenten Ambulantisierung liesse sich fast eine Milliarde Franken sparen. Bei Spitalkosten von rund 20 Milliarden Franken ist das substanziell. Wie viel bei der Ambulantisierung möglich ist, zeigt sich in den USA. Dort werden fast alle orthopädischen Eingriffe ambulant gemacht.
Das heisst, die Spitäler entlassen die Patienten und Patientinnen mit ihrem neuen Hüftgelenk oder mit ihrem frisch operierten Arm gleich wieder nach Hause.
Natürlich geht das nur, wenn die persönliche Situation zu Hause stimmt und wenn es die konkrete medizinische Situation zulässt. Doch in der Schweiz kann auf jeden Fall viel mehr ambulant gemacht werden. Damit sich die ambulanten Behandlungen auch durchsetzen, müssen die ambulanten Pauschalen höher sein als die heutigen Tarmed-Tarife. Doch das ist nicht der Fall. Es ist für ein Spital wirtschaftlich interessanter, einen Eingriff stationär durchzuführen, vor allem wenn die Patienten und Patientinnen zusatzversichert sind, und das ist nicht gut. Der Tarmed, also der Tarif für die ambulanten Leistungen, ist komplett veraltet. Zudem sollten die Tarife im ambulanten Bereich der medizinischen Entwicklung Rechnung tragen und regelmässig angepasst werden.
Wie sieht es bei den stationären Tarifen aus?
Der Swiss DRG ist im Prinzip ein gutes System. Er berücksichtigt – mit mehreren Jahren Verzögerung – die Inflation und er trägt dem medizinischen Fortschritt Rechnung. Doch auch hier sollten die Preise angemessen nach oben angepasst werden.
Was liegt denn bei der Effizienz noch drin?
Viele Ärztinnen und die Pflegenden laufen bereits heute auf dem Zahnfleisch. Es wäre unvertretbar, den Druck auf das Personal weiter zu erhöhen. Zudem: Der Druck, den sich die Krankenkassen wünschen, ist sehr wohl in den Spitälern angekommen. Die meisten Spitäler unternehmen grosse Anstrengungen, um ihre Produktivität zu erhöhen. Viele arbeiten an innovativen und effizienteren Prozessen und auch bei der Digitalisierung tut sich viel. Am Berner Inselspital zum Beispiel arbeiten zur Zeit mehrere hundert Mitarbeitende aus dem Kerngeschäft an einem Projekt zu einer umfassenden Digitalisierung. Wichtig ist auch, dass die Spitäler verstärkt in Netzwerken zu denken und nicht in Silos. Auch hier sehen wir viele positive Beispiele der Zusammenarbeit, es gibt immer mehr Kollaborationen und Joint Ventures. Das alles braucht nicht nur Geld, sondern auch Ressourcen. Deshalb sollten wir den Druck etwas reduzieren, damit die Spitäler überhaupt wieder genügend Luft haben, ihre Zukunft zu gestalten.
Braucht es weitere Strukturbereinigungen?
Das ist unvermeidlich. In Zukunft wird es weniger Spitäler geben, die ihr Angebot stärker aufeinander abgestimmt haben.
St. Gallen, Aarau und Lausanne haben schon gebaut, Chur und Zürich werden in den nächsten Jahren hunderte Millionen Franken in neue Gebäude investieren. Wurden und werden hier die richtigen Schwerpunkte gesetzt?
Meiner Meinung wird etwas zu viel in «Beton» investiert und etwas zu wenig in smarte Lösungen. Neue Gebäude mögen gewisse Effizienzgewinne bringen, aber mehr Potenzial sehe ich auch in der digitalen Unterstützung von Prozessen. Am Schluss aber braucht es beides. Bei den Gebäuden ist aus meiner Sicht angesichts des Fachkräftemangels wichtig, dass die Funktion und nicht das «Prestige» oder die städtebaulichen Aspekte überwiegen.
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