Die Omikron-Variante scheinen die sommerlichen Temperaturen nicht zu scheren. In der Schweiz nimmt Corona wieder Fahrt auf. Ein Anstieg, den man so nicht erwartet hatte. Wie ist das zu beurteilen? Das wollte Blick von Tanja Stadler (41) wissen, der ehemaligen Präsidentin der Corona-Taskforce. Die ETH-Mathematikerin beschäftigt sich auch nach der Auflösung der Expertengruppe von Ende März mit dem Thema Covid.
Blick: Im Frühling haben wir uns auf einen entspannten Sommer gefreut. Jetzt steigen die Corona-Zahlen an. Müssen wir uns Sorgen machen?
Tanja Stadler: Die neuesten Daten zeigen, dass rund 97 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz Antikörper gegen Covid aufweisen – dank der vielen Impfungen, aber auch aufgrund von Infektionen. Damit sind wir in einer recht guten Ausgangslage, was die Situation auf den Intensivstationen betrifft. Mit den aktuell zirkulierenden Varianten müssen wir keine Überlastung der Intensivstationen mehr fürchten, auch wenn die Normalstationen wieder mit mehr Covid-Patienten rechnen müssen.
Dann können wir uns zurücklehnen?
Nein, denn jetzt kommt das Aber: Mit den momentanen Varianten können wir uns immer wieder anstecken. Mit einer steigenden Zahl an Infektionen werden mehr vulnerable Personen im Spital landen und auch die Long-Covid-Fälle zunehmen.
Der Bund meldete zuletzt fast 17'000 neue Fälle innert Wochenfrist. Sind wir schon in der Sommerwelle?
Die Zahlen dürften weiter steigen und auch bei den Spitaleinweisungen hat der Trend bereits gekehrt. Wie lange und wie weit es noch nach oben geht, ist schwer zu sagen. Wir gehen davon aus, dass sich in dieser Welle rund 15 Prozent der Bevölkerung, also über eine Million Menschen infizieren werden. Die meisten davon werden aber nicht getestet werden, die Zahl der bestätigten Fälle wird tiefer sein.
Ein Unsicherheitsfaktor ist die hohe Dunkelziffer.
Genau. Aufgrund der Abwasserproben gehen wir davon aus, dass die Dunkelziffer noch höher ist als im Winter. Derzeit dürften es über 80'000 neue Ansteckungen pro Woche sein. Das ist deutlich mehr als in den letzten beiden Jahren im Sommer. Aber es gibt viel weniger schwere Fälle.
Die Mathematikerin und Biostatistikerin Tanja Stadler (41) ist Professorin für computergestützte Evolution an der ETH Zürich. Vom Sommer 2021 bis zum Frühling dieses Jahres, als das Gremium aufgelöst wurde, präsidierte die sie die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes. Die gebürtige Deutsche wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
Die Mathematikerin und Biostatistikerin Tanja Stadler (41) ist Professorin für computergestützte Evolution an der ETH Zürich. Vom Sommer 2021 bis zum Frühling dieses Jahres, als das Gremium aufgelöst wurde, präsidierte die sie die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundes. Die gebürtige Deutsche wohnt in Basel und ist Mutter zweier Kinder.
Sind wir so weit, dass wir Omikron mit einer Grippe gleichsetzen können?
Nein, denn bei einer Omikron-Infektion sehen wir viel öfter Langzeitfolgen als bei einer Grippe, gerade auch in der jungen Bevölkerung. Zudem kann Covid unserer Immunabwehr so schnell ausweichen, dass es selbst im Sommer sehr grosse Wellen auslösen kann. Grosse Influenza-Wellen hingegen gibt es zu dieser Jahreszeit kaum.
Seit Ende März sind alle nationalen Schutzmassnahmen ausser Kraft. Wäre es Ihnen lieber, die eine oder andere wäre noch da?
Der Bundesrat will eine Überlastung der Spitäler verhindern. Diesbezüglich ist das Risiko gering und die Aufhebung der Massnahmen plausibel. Will man aber die Zahl der Infektionen nicht ganz so in die Höhe schnellen lassen, um Long Covid zu verhindern und um zu vermeiden, dass aufgrund von Krankheitsfällen Teile der Infrastruktur ausfallen, ergeben gewisse Schutzmassnahmen Sinn.
Was empfehlen Sie zum jetzigen Zeitpunkt?
Das A und O sind Masken und saubere Luft in Innenräumen. Ich selber trage im ÖV oder in Gesundheitseinrichtungen weiterhin Maske. Das reduziert bei jedem Kontakt das Risiko, dass man sich ansteckt. Man muss sich bewusst sein: Auch eine dreifache Impfung schützt nur bedingt vor einer Infektion.
Wie dringend ist der vierte Piks?
Bei vulnerablen Personen hat die Schutzwirkung gegen einen schweren Verlauf drei Monate nach der Impfung abgenommen. Eine vierte Dosis kann den vollständigen Schutz wiederherstellen. Das haben mehrere Studien ergeben. Bei den meisten Seniorinnen und Senioren ist die Auffrischung über sechs Monate her. Eine vierte Impfung schützt diese Menschen noch besser vor einem schweren Verlauf und ist darum sinnvoll.
Bloss, man muss die vierte Impfung in vielen Kantonen aus eigener Tasche bezahlen, weil eine offizielle Impfempfehlung der Impfkommission fehlt. Ein Fehler?
Die Datenlage zeigt klar, dass die vierte Impfung den vulnerablen Personen medizinisch etwas bringt. Wenn das Ziel ist, Menschen unabhängig von ihrer finanziellen Situation die optimale Prävention anzubieten, müsste die vierte Impfung für die gefährdete Personengruppe gratis sein.
Was ist mit jüngeren Personen?
Bei den Jüngeren ist die Datenlage noch nicht so klar. Erste Studien aus den USA deuten aber darauf hin, dass der Schutz gegen eine schwere Infektion mit Omikron auch bei ihnen etwas abzunehmen scheint. Gleichzeitig sind die Nebenwirkungen einer vierten Dosis nicht grösser als bei den vorhergehenden Impfungen. Es macht deshalb Sinn, wenn man sagt: Die, die möchten, können sich ein weiteres Mal impfen lassen.
Was bedeutet die Sommerwelle für den Herbst?
Selbst wenn sich keine neue Virusvariante ausbreitet, werden die Zahlen in der kälteren Jahreszeit wieder hochgehen. Das ist einfach saisonal bedingt. Es kann sein, dass die Welle etwas schwächer ausfällt, weil sich viele Menschen momentan anstecken und dadurch einen gewissen Schutz gegen Infektionen aufbauen. Möglich ist aber auch, dass wir bis dahin eine neue Variante haben, gegen die eine vorherige Infektion nicht viel nützt. Und die möglicherweise auch wieder zu mehr Spitaleinweisungen führt.
Wird es wieder harte Massnahmen brauchen?
Heute wissen wir viel mehr über das Virus, so dass wir viel spezifischer eingreifen können. Masketragen und Lüften helfen. Die Wiedereinführung der Zertifikate hingegen ist mit den jetzigen Impfstoffen nutzlos. Jedenfalls wenn man mit dem Zertifikat das Ziel verfolgt, Infektionen und Übertragungen zu verhindern. Denn davor schützt die Impfung derzeit nicht gut.
Der Bund hat die Verantwortung für das weitere Corona-Management an die Kantone abgegeben. Was halten Sie davon?
Wichtig ist, dass die Kantone einen Plan haben. Welche Massnahmen kommen in Frage? Wie kann man sich notfalls rasch auf ein Vorgehen einigen? Das müssen die Kantone über den Sommer klären. Was nach zwei Jahren Pandemie klar sein muss: Dem Virus ist es egal, wer etwas entscheidet. Es muss einfach schnell gehen.
Wären Sie wieder dabei, wenn die Taskforce wiederbelebt werden sollte?
Wenn es mich braucht, klar. Ich habe es immer als Privileg empfunden, mithelfen zu dürfen. Auch wenn natürlich nicht immer das entschieden wird, was ich persönlich möchte. Mein Ziel ist es, dass die wissenschaftliche Evidenz den Entscheidungsträgern vorliegt. Die persönliche Meinung hat in der Rolle meiner Beratungsfunktion keinen Platz.
Wagen wir eine Prognose: Die Spanische Grippe war nach drei Jahren vorbei. Ist auch die Corona-Pandemie nächstes Jahr Geschichte?
Langfristig wird sich das Ganze einpendeln. In den nächsten Jahren allerdings wird es wohl immer wieder auch im Sommer Wellen geben. Doch inzwischen wissen wir, wie wir uns schützen können. Und wir haben eine sehr wirksame Impfung und viele Werkzeuge zur Verfügung. Wir stehen definitiv viel besser da als Anfang 2020.