Wer das Bundesamt für Strassen (Astra) besucht, landet nicht etwa an der Autobahn oder muss einen unterirdischen Kreisel durchfahren. Nein, die Behörde für unsere Strasseninfrastruktur steht im beschaulichen Ittigen BE am Waldrand. Der langjährige Direktor Jürg Röthlisberger (59) empfängt Blick gut gelaunt vor den Toren Berns.
Blick: Herr Röthlisberger, erst blockiert ein Güterzug eine Gotthard-Röhre. Dann krachten im Strassentunnel Deckenteile auf die Fahrbahn. Haben wir ein Gotthard-Problem?
Jürg Röthlisberger: Nein, aber an dieser Achse gibt es immer wieder Naturereignisse. Wir betreiben 10'000 Brücken, Viadukte, Stützwände und 400 Tunnel. Bei all diesen Anlagen kann es zu Zwischenfällen kommen. Im Strassentunnel war der Schaden überschaubar. Aber es ging darum, Folgeschäden zu vermeiden. Stellen Sie sich vor: Wir hätten den Tunnel zu früh geöffnet, und es wäre nochmal etwas passiert.
Es hätte Verletzte oder Tote geben können … Hand aufs Herz, haben Sie immer gut geschlafen in diesen Tagen?
Wenn wir Pech haben, haben wir Pech. Hier hatten wir Glück, es gab weder Tote noch Schwerverletzte. Wer mit solchen Risiken nicht umgehen kann, ist am falschen Ort. Daher schlafe ich gut. Gleichzeitig ist es wichtig, demütig zu bleiben. Was der Berg macht, haben wir nie ganz im Griff.
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Wie ist das weitere Vorgehen am Gotthard?
Wir wollen wissen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Riss in der Tunneldecke und den Vortriebsarbeiten für die zweite Röhre gibt. Noch sind wir nicht ganz schlüssig. Drei Tage vor dem Unglück führten wir die letzte Sprengung durch. Zudem hatten wir schon 1985 etwas Ähnliches am Gotthard. Wir versuchen herauszufinden, ob das jetzige Ereignis auch ohne die Arbeiten für die zweite Röhre geschehen wäre. In drei Wochen haben wir hoffentlich Gewissheit. Wenn es einen Zusammenhang mit den Tunnelarbeiten geben sollte, würden wir noch schonender sprengen, zu einer Verzögerung kommt es aber nicht.
Der Gotthardtunnel gilt seit zehn Jahren als sanierungsbedürftig. Weitere sechs Tunnel sind in einem schlechten Zustand. Das tönt nicht vertrauenerweckend.
Von 400 Tunnels sind 394 in gutem Zustand! Und keiner der sechs anderen Tunnel ist gefährlich. Aber ja, sie haben Defizite, die beseitigt werden sollten. Wir haben von den Kantonen zudem rund 400 Strassenkilometer übernommen. Wir können nicht alles auf einmal sanieren, aber wir sind daran, die Pendenzen abzuarbeiten. Der Gotthardtunnel ging vor 43 Jahren in Betrieb, darum haben wir seine Sanierung empfohlen. Der Deckenriss hat unsere Empfehlung bestätigt.
Der Gotthard ist auch wegen des Staus ein Politikum. Im Parlament sind Forderungen nach einer Maut laut geworden. Wie stehen Sie dazu?
Was wir diesen Sommer in Uri erlebt haben, kennen viele im Mittelland praktisch 365 Tage im Jahr. Im Raum Lausanne, Genf, Bern, Basel, Solothurn und Zürich gibt es ständig Staus auf Autobahnen und Umfahrungsverkehr in den Dörfern. Wir werden für den Gotthard bis Ende Jahr eine Auslegeordnung präsentieren, in der auch die Maut Thema ist. Entscheiden muss die Politik. Dabei wird man die Frage stellen müssen, warum es nur am Gotthard eine Maut brauchen soll. Warum nicht bei Basel? Oder am Gubrist? Und welche Auswirkungen hat eine Gotthard-Maut auf die Kohäsion der Schweiz? Oder auf die anderen Transitrouten? Solche Fragen müssen diskutiert werden.
Sie halten wenig von einer Gotthard-Maut, schliessen wir.
Als Nationalstrassenbetreiber frage ich mich, wie man sicherstellt, dass es durch eine Gotthard-Maut nicht zu neuem Ausweichverkehr auf den anderen drei Alpenübergängen kommt. Und als Bürger frage ich mich, wie man dann Lösungen für diese Anwohner und für die Kohäsion der Schweiz finden will.
Zu etwas für Sie Erfreulicherem: Das Parlament hat den durchgehenden Ausbau der A1 auf sechs Spuren beschlossen. Hat das Astra die Champagnerkorken knallen lassen?
Dieses totale Emotionalisieren ist doch völlig aus der Zeit gefallen! Wir köpfen im Astra keine Champagnerflaschen, aber wir sind zufrieden, wenn unsere Empfehlungen aufgenommen werden. Die sechs Spuren hat der Bundesrat in seiner Planung schon lange drin. Das ist nichts Neues. Das bringt Entlastung und man kriegt wieder halbwegs verlässliche Reisezeiten hin. Ob ich jetzt fünf Minuten schneller oder langsamer bin, ist dabei nicht entscheidend. Sondern zu wissen, dass ich etwa eine gute Stunde und nicht drei Stunden unterwegs bin. Logistiker wie Planzer, Schöni und Galliker sollen wieder mit grosser Sicherheit planen können. Zudem macht es unser Strassennetz robuster, wenn wir Spuren zur Verfügung haben, von denen wir einzelne für Unterhaltsarbeiten schliessen können, während denen der Verkehr weiterrollen kann.
Ist der Unterhalt ein Problem?
Zusehends ja. Aber nicht finanziell. Das Geld ist da, aber die Zeit macht uns Sorgen. Unterhaltsarbeiten wie Belagsersatz machen wir vor allem nachts, aber die Nachtfenster werden laufend kürzer – beispielsweise aus Lärmgründen. Wenn wir nachts nur noch vier Stunden lang arbeiten können, lohnt sich das nicht mehr.
Das Parlament hat mit dem neuen Strassenverkehrsgesetz die Grundlage für automatisiertes Fahren geschaffen. Was kommt da auf uns zu?
Wir müssen unsere Verkehrsinfrastruktur effizienter nutzen, denn die geplanten Ausbauten stehen erst in 20 bis 30 Jahren zur Verfügung. Das neue Gesetz schafft die Voraussetzung dafür, dass auf der Autobahn der Computer das Fahren übernehmen darf. So fliesst der Verkehr besser – und es kommt zu weniger Unfällen. Eigentlich ist das Fahren auf der Autobahn ja weniger anspruchsvoll als auf einer grossen Kreuzung in der Stadt. Doch gerade, wenn es anspruchslos wird, sind wir zu wenig aufmerksam. Hier kann die Technik Unfälle vermeiden.
Das Gesetz tritt 2025 in Kraft. Noch gibt es aber gar nicht so viele automatisierte Autos.
Aber ihre Zahl wächst. Bis in 50 Jahren werden wir wohl weiterhin Mischverkehr haben. Doch schon ab einem Anteil von 10 Prozent automatisierten Autos verbessert das den Verkehrsfluss. Und bei 20 bis 30 Prozent wird der Verkehr deutlich besser fliessen und auch die Unfälle werden merklich zurückgehen. Wir gehen davon aus, dass wir die Kapazitäten unserer Strassen um 10 Prozent besser nutzen können. Zusammen mit den punktuellen Ausbauten entstehen wirksame, griffige Lösungen. Das eine tun und das andere nicht lassen!
Bisher wirkt vollautomatisiertes Fahren äusserst futuristisch. Versuche mit autonomen Postauto-Shuttles in Sitten oder dem sogenannten «Matte-Schnegg» in Bern haben nicht überzeugt.
Es ging dabei sicher auch darum, die Kundschaft an das System heranzuführen. Den ÖV-Betreibern war es wichtig, Rückmeldungen zu bekommen. Kann die Gesellschaft damit umgehen? In diesem autonomen ÖV erkennen wir enormes Potenzial. Jetzt geht es darum, langsam, aber sicher erste Anwendungen in den Fahrplan zu bringen. Mit dem neuen Gesetz schaffen wir die Voraussetzung dafür. Vorderhand aber wird es noch Operatoren brauchen, die zum Beispiel aus einer Zentrale mehrere Fahrzeuge überwachen.
Sie glauben, dass uns in wenigen Jahren der Computer mit dem ÖV ins hinterste Tal fahren kann?
Auf jeden Fall! Erste Angebote werden in den nächsten paar Jahren unterwegs sein. Bis zu einem flächendeckenden Einsatz wird es sicher noch zehn Jahre dauern. Voraussetzungen dafür ist, dass die notwendigen Funknetze zur Verfügung stehen. Die ÖV-Fahrzeuge müssen stets in Funkkontakt zu den Betreibern sein. Das sieht man etwa bei den Robo-Taxis in Kalifornien. Findet ein grosser Event statt, steht noch alles still, weil die Leute das Netz mit ihrem Handy belasten. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir beim automatischen Fahren auf der Autobahn, bei fahrerlosen Rufbussen und mit autonomen Lasten-Robotern bald enorme Effizienzverbesserungen erzielen. Das Potenzial ist riesig und die Entwicklung wird schneller gehen, als viele meinen.