Es war in diesem Sommer, als die SVP wieder einmal in die Kampagnenkiste griff und ein neues Feindbild hervorzauberte: die Städter. Nach den Ausländern, den Sozialhilfebezügern und den EU-Vertretern mussten sie sich wochenlang von der grössten Partei im Land beschimpfen lassen. SVP-Präsident Marco Chiesa (47) sagte am 1. August: «Die Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen in den Städten wollen allen anderen im Land vorschreiben, wie sie zu denken und zu leben haben.»
Die SVP positioniert sich – auch bereits im Hinblick auf die nächsten Wahlen – pointiert als Stimme der Landbevölkerung. Doch diese Strategie könnte auch scheitern. Im heute publizierten Stadt-Land-Monitor, den die Forschungsstelle Sotomo im Auftrag der Agrargenossenschaft Fenaco erstellt hat, bekennt sich nicht einmal die Hälfte der SVP-Wählerschaft zum Land. Nur 45 Prozent der befragten SVP-Anhänger geben angesichts des Stadt-Land-Grabens an, sich auf der Seite des Landes zu sehen. 10 Prozent positionieren sich auf der Seite der Stadt, 31 Prozent irgendwo dazwischen, und 14 Prozent sehen überhaupt keinen Graben.
Die Schweiz lebt im «Dazwischen»
Umgekehrt ist das Bild am linken Rand. Die SP zählt am meisten Menschen, die sich der Stadt zugehörig fühlen. Allerdings sind es auch hier nur 36 Prozent. Der Grossteil der SP-Wähler positioniert sich nicht im einen oder anderen Lager. Generell ist es so, dass sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung weder dem Land noch der Stadt zugehörig fühlt.
Das «Dazwischen» sei die schweizerische Normalität, schreiben die Autoren um Politgeograf Michael Hermann in der Studie. Folglich eigne sich der Stadt-Land-Graben nur bedingt als politisches Kampagnenthema. «Dafür sind die Haltungen bei den Wählenden viel zu uneinheitlich und nicht genügend schwarz-weiss.»
SVP zählt Agglo zum Land
Trotzdem schimpft die SVP weiter gegen die Städte. SVP-Nationalrat Thomas Matter (55) sagt: «Wir kritisieren die grossen Städte nicht, weil wir eine Kampagne führen wollen, sondern weil effektiv ein politisches Problem besteht.» Die Partei störe sich vor allem an den grossen, links regierten Städten wie Zürich oder Bern. Kleinstädte wie Dübendorf ZH habe man nie ins Visier genommen. «Die Agglomerationsgemeinden zählen wir ebenfalls zum Land.»
Matter sieht sich durch die Studie denn auch nicht entmutigt, sondern vielmehr bestätigt. Er sagt: «Anders als gewisse Medien im Sommer behauptet haben, zeigt die Studie, dass der Stadt-Land-Graben effektiv existiert.»
Der Stadt-Land-Graben besteht
Tatsächlich belegen die Autoren, dass sich der Graben zwischen grossen Städten und dem ländlichen Raum bei Abstimmungen in den letzten zwei Jahren massiv vergrössert hat. Nie in den letzten 40 Jahren lagen Stadt und Land so weit auseinander wie bei der Abstimmung über das CO₂-Gesetz und die Trinkwasser-Initiative, die im Juni an die Urne kamen.
Problematisch sind solche Spannungsfelder laut den Autoren vor allem dann, wenn die eine Seite die andere überstimmt. Das ist in der Schweiz der Fall. Seit Anfang 2020 wurden die grösseren Städte in 11 von 22 Abstimmungen überstimmt. Das Land hingegen nur einmal – bei der Abstimmung zum Jagdgesetz.
Einseitige Sympathien
Nichtsdestotrotz nimmt die Bevölkerung die Städte in den meisten Bereichen als dominant wahr. So halten die meisten die Städte bei den gesellschaftlichen Trends für bestimmend und wirtschaftlich am einflussreichsten.
Vielleicht rührt es auch daher, dass viele Menschen auf dem Land eine Abneigung gegenüber den Städterinnen und Städter entwickelt haben. Fragt man sie, welche Eigenschaften sie mit Städtern verbinden, antworten sie gemäss der Studie am häufigsten «konsumfreudig», «oberflächlich», «arrogant» oder «egoistisch». Umgekehrt halten die Menschen in der Stadt die Landbevölkerung für «traditionell», «gesellig», «hilfsbereit» und «sympatisch». Der Sympathie-Graben ist klar asymetrisch.