SVP-Präsident Marco Chiesa (46) zündete am 1. August ein rhetorisches Feuerwerk gegen die Städter. «Die Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen in den Städten wollen anderen im Land vorschreiben, wie sie zu denken und zu leben haben», schimpfte er.
Während die SVP-Zentrale in früheren Jahren ihre Politiker im Land mit Textbausteinen belieferte, damit diese ihre 1.-August-Reden basteln konnten, kam der Städte-Angriff diesmal für die meisten unangekündigt. Entsprechend überrascht zeigen sich SVP-Politiker aus urbanen Gebieten.
«Können 364 Tage angreifen»
Der Wiler SVP-Nationalrat Lukas Reimann (38) etwa sagt: «Man kann an 364 Tagen im Jahr angreifen, aber sicher nicht am 1. August.» Schliesslich sei der Nationalfeiertag eingeführt worden, um den Zusammenhalt im Land zu sichern.
Reimann hält das Städter-Bashing, das die SVP im Hinblick auf die Wahlen 2023 forcieren will, für die falsche Strategie. Schliesslich lebten immer mehr Menschen in der Stadt. «Wenn wir uns nur auf unsere ländlichen Stammlande fokussieren, sind wir irgendwann nur noch eine Fünf-Prozent-Partei.»
Er fände es wesentlich erfolgversprechender, wenn die SVP mit herausragenden Persönlichkeiten in den Städten versuchen würde, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. «Ein Vorbild für uns könnte der britische Premier Boris Johnson (57) sein», sagt Reimann. «Er hat als Bürgermeister von London vorgemacht, dass man auch als konservativer Politiker eine Grossstadt regieren kann.»
Thuner Stapi ist besorgt
Eine etwas kleinere Stadt regiert Raphael Lanz (52), Stadtpräsident von Thun und Berner SVP-Grossrat. Auch ihm behagt die eingeschlagene Richtung nicht: «Je stärker man den Stadt-Land-Graben öffnet, desto schwieriger wird es, ihn später wieder zuzuschütten.»
Als Stadtpräsident vertrete er alle Thunerinnen und Thuner. Und es sei nun einmal so, dass sich die Bedürfnisse der Stadtbevölkerung nicht immer mit jenen der Landbevölkerung deckten. So gäbe es etwa in Thun manche bürgerliche Familie, die auf eine Kinderkrippe angewiesen sei, damit beide Elternteile arbeiten könnten. «Das kann man gut oder schlecht finden, aber es ist eine gesellschaftliche Realität, die wir in der Stadt nicht ausblenden können.»
Der Exekutivpolitiker vergleicht die Strategie der SVP mit jener eines Unternehmens: «Als Unternehmer gehen Sie auch nicht in einen Markt, der schrumpft – ausser Sie wollen ein Nischenprodukt herstellen.» Und das könne nicht das Ziel der Partei sein: «Wir wollen doch eine Volks- und keine Nischenpartei sein.»
Städtische SVPler kritisch
Auch Präsidenten von SVP-Stadtparteien stehen nicht vorbehaltlos hinter dem Kurs der Parteizentrale. So sagt etwa Eduard Rutschmann (67), Präsident der SVP Basel-Stadt: «Ich unterstütze eine Kampagne gegen die Stadtbevölkerung nicht.» Allerdings könne er den Frust der «Landschäftler» im Raum Basel, die kaum mehr mit dem Auto in die Stadt kämen, gut verstehen.
Und der Präsident der SVP Stadt Luzern, Dieter Haller (47), findet, man müsse die urbane Politik genauso vorantreiben wie die ländliche – schon nur aus wahltaktischen Gründen. Die Stadt Luzern zähle beispielsweise rund doppelt so viele Einwohner wie das Entlebuch. «Eine Steigerung des Wähleranteils um zwei Prozent in der Stadt kann uns daher schon viel bringen.»
Parmelin für Dialog
Rückendeckung erhalten die internen Kritiker von ganz oben. SVP-Bundesrat Guy Parmelin (61) rief die Bevölkerung am Nationalfeiertag zum Dialog auf: «Wichtig ist der Kontakt zwischen Stadt und Land», sagte er. «Das fehlt.» Feiern, wie diejenige am 1. August, könnten helfen, dass sich Städter und Landmenschen aufeinander zubewegten. Seine Partei sieht das offenbar anders.
Die Schweiz versteht sich nicht mehr so richtig. Warum? Und wie kann man das ändern? Die grosse Blick-Sommerserie zum Stadt-Land-Graben geht diesen Fragen aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund.
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