Es sind die zehnten National- und Ständeratswahlen, die Claude Longchamp (66) als Politologe begleitet – und es werden die letzten sein. Nach den Bundesratswahlen im Dezember will sich der bekannteste Politexperte der Schweiz definitiv in den Ruhestand begeben.
Noch denkt Longchamp aber nicht allzu sehr an das, was nach dem 22. Oktober ansteht. Der Fokus liegt ganz auf dem Wahlsonntag. Auf Blick TV schätzt er ab Mittag live die neusten Hochrechnungen und Resultate ein. Im Interview erklärt er vorab, auf welche Rennen er besonders gespannt ist.
Herr Longchamp, haben Sie eine Wahlwette abgeschlossen? Oder machen Sie das aus Prinzip nicht?
Claude Longchamp: Ich hab das ein einziges Mal gemacht, mit der ehemaligen SVP-Nationalrätin und späteren Berner Regierungsrätin Elisabeth Zölch. Das war 2006. Ich habe gewonnen. Doch die Flasche Champagner, um die wir gewettet hatten, habe bis heute nicht bekommen. (Lacht.)
Vergangene Woche kam die letzte Wahlumfrage heraus. Was hat Sie dabei überrascht?
Dass SVP und SP zulegen, kennen wir unter dem Stichwort Polarisierung. Eine Überraschung aber ist die Mitte und wie schnell sich die neu formierte Partei im politischen Zentrum durchsetzen konnte. Sie könnte es schaffen, dort ein neues Schwergewicht zu werden. Damit habe ich noch vor einem Jahr nicht gerechnet. Lange wurde erwartet, dass die GLP der grosse Dominator wird. Doch so kam es nicht.
Wird die Mitte sogar die FDP überholen? Das wäre historisch.
Das ist die grösste Frage dieser Wahlen. Ich halte es für möglich, allerdings dürfte es höchstens ein geringer Vorsprung sein. Das letzte Wahlbarometer hat gezeigt, dass die Zahl der unentschiedenen Mitte-Wähler abgenommen hat – bei der FDP nahm diese Zahl hingegen zu. Dass die Freisinnigen so kurz vor den Wahlen noch so viel Unentschiedene in den eigenen Reihen haben, ist krass.
Am Sonntag wird gewählt!
Werfen wir einen Blick auf die Kantone. Wo wirds besonders spannend?
Ich würde das gern nach Parteien unterscheiden. Zwischen den Grünen und der SP kommts zur grössten Verschiebung. Zwei Prozent der Grünen-Wählenden von 2019 wollen zur SP abwandern. In Zürich, Bern und der Waadt dürfte die SP dadurch Sitze gewinnen, allenfalls auch in Genf und Solothurn. In Graubünden und Basel-Stadt drohen der SP hingegen Sitzverluste. Die Grünen können fast nirgends gewinnen.
Wo dürfte die SVP am meisten zulegen?
Bei der SVP lässt sich nicht so eindeutig sagen, wo und zu wessen Lasten sie gewinnen wird. Es geht vor allem um Wackelsitze, die man das letzte Mal verloren hat und jetzt wieder holen könnte. Zulegen könnten sie in Graubünden, Luzern, in der Waadt und im Tessin. Im Thurgau hingegen, wo die SVP die Hälfte der Abgeordneten stellt und eigentlich überdotiert ist, können schon kleinste Verluste zu einem Sitzverlust führen.
Und die Mitte?
Für sie ist ein Sitzgewinn im Aargau, Bern und St. Gallen möglich. Im Aargau könnte sie EVP-Präsidentin Lilian Studer aus dem Parlament drängen. In Baselland könnte die Mitte allenfalls einen Sitz an die GLP verlieren.
In Zürich könnte Corona-Skeptiker Nicolas Rimoldi einen Sitz holen. Wie hoch sind seine Chancen?
Ich halte es für möglich, aber sicher ist es nicht. Die Massnahmenkritiker überschätzen sich selbst massiv. Mit dem Wegfall der Pandemiemassnahmen sind sie praktisch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Bewegung ist futsch – jetzt ist sie nur noch ein Marketingprodukt für einzelne Exponenten. Dass der Luzerner Rimoldi in Zürich antritt, ist reine Taktik. Er weiss: Höchstens hier hat er eine Chance.
Wegen Verschiebungen bei den Bevölkerungszahlen muss Basel-Stadt Zürich einen Sitz abgeben. Welche Baslerin, welcher Basler muss am meisten zittern?
Das ist sehr schwer zu sagen. Am gefährdetsten dürfte GLP-Nationalrätin Katja Christ sein. Aber es ist auch nicht sicher, dass Rot-Grün drei Sitze macht. Und da kann es alle treffen – etwas grösser ist die Gefahr hier wohl für die SPler Sarah Wyss und Mustafa Atici als für die Grüne Sibel Arslan.
Wie gefährdet ist in Baselland der Sitz von Samira Marti, die erst seit Kurzem Co-Fraktionschefin der SP ist?
Ich erachte die Gefahr einer Abwahl als gering. Sie ist anerkannt. Wenn überhaupt, dann wackelt der Sitz von Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter.
Was verspricht ein Blick in die Westschweiz?
Dort ist das grosse Thema das Einbrechen der Grünen. Vor vier Jahren sagte man noch, die zukünftige Westschweiz ist grün. Jetzt riskieren sie, auf Platz 4 abzurutschen – hinter SP, SVP und FDP, wie die Reihenfolge in der Romandie lautet.
Inwiefern könnte der Krieg in Israel noch Auswirkungen aufs Wahlergebnis haben?
Wenn der Krieg jemandem politisch nützt, dann rechts – also SVP oder FDP. Das hat man beim Ukraine-Krieg gesehen. Doch das Ausmass des Einflusses schätze ich sehr gering ein. Zum jetzigen Zeitpunkt sind noch maximal 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler unentschieden. Zwei Drittel davon müssten SVP wählen, damit sie ein Prozent zulegen könnte. Das ist völlig unrealistisch.
2019 waren Frauen- und Klimawahlen. Welchen Übernamen werden die diesjährigen Wahlen bekommen?
Nach zehn eidgenössischen Wahlen, die ich als Politologe begleitet habe, steht eins fest: Wie immer nach grossen Verschiebungen wird es auch jetzt zu einem Jojo-Effekt kommen. Man könnte also von Jojo-Wahlen sprechen, die uns erwarten.