Balthasar Glättli (51) war der erste Parteipräsident, der sich zum Angriff auf Israel äusserte. «Den Terror der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung verurteile ich aufs Schärfste», twitterte der Grünen-Chef am Samstag vor einer Woche. «Unser Mitgefühl gilt den Opfern dieser barbarischen Gewalt.»
Während der Mensch Glättli mit seinen Gedanken bei den Opfern war, wusste der Wahlkämpfer Glättli, dass sein Job gerade nochmals schwieriger geworden ist. Denn – so zynisch es auch klingen mag – Kriege und Krisen geben rechten Parteien Auftrieb. «Profitiert die SVP jetzt vom Terrorangriff der Hamas?», fragte die Gratiszeitung «20 Minuten».
Der St. Galler SVP-Nationalrat Lukas Reimann (41), der zuletzt mit Wohlfühlbotschaften Wahlkampf gemacht hatte, die er sich vom Computerprogramm ChatGPT formulieren liess («In der Ruhe und Weite der Natur finden wir oft Klarheit und Entspannung»), kennt auf seinen Social-Media-Kanälen neuerdings nur noch ein Thema. Immer wieder postet er Auszüge seiner Rede aus dem Nationalrat, als er vor einem Jahr lautstark ein Verbot der Hamas gefordert hatte – und unterlegen war.
Neuer Ton
Die neue Härte Balthasar Glättlis hat mit der jüngeren Vergangenheit der Grünen zu tun. Mit ihrem Nein zu Waffenexporten an die Ukraine, die sich gegen den russischen Aggressor verteidigen muss.
Oder mit ihrem einstigen Nationalrat, dem Palästinenserfreund Geri Müller (62), der sich 2012 mit Vertretern der Hamas im Bundeshaus getroffen hatte und auch heute noch dagegen ist, dass die radikalen Islamisten, die im Gazastreifen herrschen, als Terrororganisation eingestuft werden.
Damit bloss kein falscher Eindruck entsteht, twittert Glättli nun besonders fleissig. Und seine Partei steht inzwischen überdeutlich hinter einem Verbot der Hamas und spricht sich für Sanktionen aus: Die Schweiz müsse sicherstellen, dass sowohl die Hamas als auch ihr libanesisches Gegenstück, die Hisbollah, in Zukunft weder finanziell unterstützt werden, noch das Schweizer Finanzsystem nutzen können.
Nächsten Sonntag wird gewählt. Den Grünen bleibt also gerade noch eine Woche, um Prognosen Lügen zu strafen. Denn die sehen für die Öko-Partei düster aus. Gemäss dem jüngsten Wahlbarometer der SRG, das Mitte letzter Woche veröffentlicht wurde, verlieren die Grünen im Vergleich zu den letzten Wahlen 3,5 Prozentpunkte und erreichen nur noch 9,7 Prozent Stimmenanteil. Gewinne sagt die Umfrage für SVP (+2,5), SP (+1,5) und Mitte (+0,5) voraus, je einen Prozentpunkt hingegen verlieren FDP und GLP.
Falsche Themen
Das aktuelle Geschehen, die sogenannte Themenkonjunktur, meint es nicht gut mit den Grünen. Die Menschen machen sich vor allem Sorgen über Kriege und Gesundheitskosten.
Obwohl der Klimawandel im letzten Sorgenbarometer Platz zwei belegte, rückten Umweltfragen dieser Tage in den Hintergrund. Und ausgerechnet jetzt, kurz vor den Wahlen, verabschiedet sich der lange, viel zu heisse Sommer – und die ersten Frostnächte kündigen sich an. Trotzig twittert Glättli: «Die Frage am 22. Oktober ist nun: Klimaschutz oder Rechtsrutsch?» Abgerechnet werde am Schluss, tröstet sich die Partei. Auch bevor es 2019 zur triumphalen «Klimawahl» kam, hätten die Umfrageergebnisse anders ausgesehen.
Ans Aufgeben denkt bei den Grünen niemand. Die Bernerin Aline Trede (40), Fraktionspräsidentin im Nationalrat, steht derzeit jeden Tag auf der Strasse: Am Berner HB verteilt sie Flyer, in Zollikofen, Muri oder Köniz sammelt sie Unterschriften für das Autobahnreferendum. An den Universitäten geht Trede mit einem Mate-Tee auf Stimmenfang, der mit dem Parteilogo versehen ist.
In den letzten Wochen war kaum Betrieb in Berns Lauben. Nach den Herbstferien aber seien die Leute zurück, sagt Aline Trede, und jede Stimme zähle: «Es ist eine Frage der Mobilisierung.» Dass grüne Anliegen Menschen in grosser Anzahl zusammenbringen können, habe die Klima-Demo von Ende September gezeigt, als in der Bundesstadt rund 60'000 Personen demonstrierten. «Diese Mobilisierung müssen wir auch an der Urne hinbekommen», sagt Trede.
Sorgen macht ihr eine tiefe Wahlbeteiligung, die sich trotz aller Bemühungen abzeichnet. In sämtlichen von Blick angefragten Städten liegt sie niedriger als vor vier Jahren. In den Berner Wahlbüros etwa lagen Mitte vergangener Woche erst 13'443 retournierte Couverts, was 15,1 Prozent aller Stimmberechtigten entspricht. Am gleichen Stichtag 2019 hatten bereits 16 Prozent abgestimmt. Bis Urnenschluss beteiligten sich damals 45,1 Prozent an den nationalen Wahlen. Mehr werden es heuer wohl nicht.
Noch bleibt eine Woche Zeit für den Schlussspurt. Nationalrätin Trede will keine Chance verpassen, um weitere Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Ihr Wahlkampf dauert bis nächsten Samstag tief in der Nacht. Dann wird sie gemeinsam mit den Jungen Grünen nochmals auf Berns Gassen unterwegs sein und die Nachtschwärmerinnen und Nachtschwärmer mit «Kater-Bouillon» versorgen.
Auf den kleinen Säckchen aufgedruckt: ein Plan, der den Weg zum nächsten Wahllokal weist.