Der Auftritt war ein Fiasko. Am ersten Tag des Ukraine-Kriegs war Bundespräsident Ignazio Cassis (61) vor die Medien getreten und verlas eine Erklärung. Schon nach wenigen Minuten verschwand er wieder und überliess es seinen Beamten, die Sanktionspolitik des Bundesrats zu erklären. Zurück blieben mehr Fragen als Antworten.
Die Orientierungslosigkeit rief sogar die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments auf den Plan. In einem Schreiben warf sie der Landesregierung vor, völlig unvorbereitet auf den Ukraine-Krieg gewesen zu sein. Kommt hinzu: Noch kurz vor Kriegsbeginn hatte Armeechef Thomas Süssli (55) in der Sendung «NZZ Standpunkte» erklärt, es sei unwahrscheinlich, dass Russland in der Ukraine einmarschiert.
Plötzlich will Bund alles vorhergesehen haben
Nun aber soll plötzlich alles ganz anders sein. Jetzt wollen Bundesrat und Armee plötzlich genau über die russischen Angriffspläne gegen die Ukraine informiert gewesen sein. Das geht aus der schriftlichen Antwort des Bundesrats auf eine Interpellation von Andreas Gafner (51) hervor. Der Berner SVP-Nationalrat hatte nach all den Irrungen und Wirrungen der ersten Kriegstage angefragt, woher die Armee eigentlich ihre Informationen erhalte.
Der Bundesrat lässt sich aber keine Kritik gefallen. Der Armeechef sei über die Einschätzungen der Nachrichtendienste im Bild gewesen, die einen Angriff vorhergesagt hätten. Ergo: Süssli sei mitnichten überrascht gewesen. Als Beleg nimmt der Bundesrat ein Interview im «Tages-Anzeiger» vom 9. März – knapp zwei Wochen nach Kriegsbeginn! Dann aber war wohl niemand mehr überrascht.
Rechtfertigungen kamen bisher nicht gut an
Schon Verteidigungsministerin Viola Amherd (60) hatte die Kritik aus dem Parlament nicht auf sich sitzen lassen wollen. Ihr Departement sei vom Ukraine-Krieg überhaupt nicht überrascht gewesen, hatte sie im Mai an einem SVP-Anlass betont – was im Parlament von links bis rechts nur noch mehr Kopfschütteln auslöste.
«Wenn der Bundesrat auf den Ukraine-Krieg vorbereitet gewesen sein will und dennoch ein solches Verhalten und eine solche Kommunikation an den Tag legt, will ich nicht dabei sein, wenn er unvorbereitet von einer Krise getroffen wird», kommentierte SP-Nationalrätin Franziska Roth (56) damals im Blick. «Die Regierung wirkte überfordert.»
Der Bundesrat aber beharrt darauf, durchaus vorbereitet gewesen zu sein. Einzig: «Das genaue Datum und die Brutalität des russischen Angriffs konnte niemand vorhersehen.» Ansonsten aber hätten die Nachrichtendienste die Entwicklungen in der Region eng verfolgt. Der Bundesrat weise schon seit Jahren auf die russische Bedrohung hin.
Überraschung: Bundesrat sah sogar weiteren Kriegsverlauf voraus
Die Regierung behauptet zudem, nicht nur den Angriffskrieg vorhergesehen haben, sondern auch gleich noch dessen weiteren Verlauf. So hätten die Nachrichtendienste festgestellt, «dass der russische Kräfteansatz sowie die ursprünglich für eine Übung mitgeführten militärischen Kampfunterstützungs- und logistischen Mittel für eine Besetzung grosser Teile der Ukraine nicht ausreichen würden».
Und weiter: «Der Verlauf und Misserfolg der russischen Operation im Norden der Ukraine hat den Einschätzungen der Nachrichtendienste recht gegeben.» Der Bundesrat sehe denn auch keinen Anlass für grundlegende Reformen bei den Nachrichtendiensten.
Warum Bundesrat und Verwaltung aber direkt nach Kriegsbeginn ein Bild kompletter Orientierungslosigkeit geboten haben, geht aus der schriftlichen Antwort nicht hervor. Auch die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments wird sich davon kaum beschwichtigen lassen. (dba)