Was ist mit mehr Papierkram verbunden: die Geburt eines Kindes oder die eines Kälbchens? Markus Ritter (54) muss nicht lange überlegen. «Wenns im Stall Nachwuchs gibt, bringt das in den ersten Tagen definitiv mehr Bürokratie mit sich als das bei meinen Kindern der Fall war», sagt er.
Ritter, oberster Landwirt im Land, Mitte-Nationalrat und dreifacher Vater, sitzt am Esstisch bei sich zu Hause im St. Galler Rheintal. Auf dem abwaschbaren Tischtuch hat er Ordner, Mappen, Pläne, Hefte und Formulare ausgebreitet. Der Präsident des Bauernverbands stellt fest: «Der administrative Aufwand für uns Landwirte ist heute ein administrativer Wahnsinn!»
Gar nicht kontrollierbar
Auslaufjournal, Nährstoffbilanz, Feldkalender, Fruchtfolgerapport: Tatsächlich ist Bauern längst auch ein Bürojob. Grund dafür ist das Direktzahlungssystem. Rund 2,8 Milliarden Franken erhalten die Schweizer Landwirte jedes Jahr vom Bund. Und wer kassiert, muss auch kontrolliert werden.
Das sieht Ritter ein. Doch er fragt: «Wo ist das Ende der Fahnenstange?» Der administrative Aufwand steige und steige. Der Bauer muss zum Beispiel jeden Tag in einer Tabelle eintragen, ob die Kühe draussen auf der Wiese grasten, auf dem Laufhof waren oder nur im Stall standen. Je nach Alter und Geschlecht in einer separaten Spalte. Wer Hühner hat, muss sogar eintragen, wenns an einem Tag stark gewindet, geregnet oder geschneit hat und die Tiere deshalb drinnen blieben – für jedes Wetterereignis gibts eine eigene Abkürzung.
Für jedes Papier gäbe es zwar eine Begründung, sagt Ritter. Doch die Summe mache es schlimm. «Irgendwann ist es nicht mehr bewältigbar. Unser Tag hat auch nur 24 Stunden.» Manche Dokumentationspflichten seien schlichtweg unsinnig und unnötig – oder wie es der Bauernpräsident ausdrückt: ein «fixfertiger Seich».
Zum Beispiel der sogenannte Feldkalender. In diesem müssen die Bauern detailliert eintragen, an welchem Tag wo gemäht, wo gemistet, wo mit welcher Maschine gegüllt oder gesät, geerntet oder Blacken gestochen wurden. «Das ist gar nicht mehr kontrollierbar und bringt kaum einen Mehrwert», kritisiert Ritter.
Viel gebessert hat sich nicht
Schon vor Jahren haben die Bauern dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) darum vorgeschlagen, den Feldkalender zu streichen oder ihn zumindest zu vereinfachen. Auch wird bereits seit Langem kritisiert, dass die Nährstoffbilanz, mit der die Bauern nachweisen müssen, dass sie nicht zu viel düngen, viel zu kompliziert sei.
Das BLW hat auf den Input der Landwirte hin zahlreiche Anpassungen vorgenommen. Doch viel verändert hat sich laut Ritter nicht. Der Feldkalender ist noch immer Pflicht, die Nährstoffbilanz können viele Bauern nicht selbst ausfüllen, weil sie nicht durchblicken. Bei einer Umfrage der Forschungsanstalt Agroscope gaben fast drei Viertel der Bauern an, der administrative Aufwand habe in den letzten Jahren weiter zugenommen.
Bald wirds noch mehr. Die neuen Pestizid- und Dünge-Vorgaben, die das Parlament im März beschlossen hat, hätten wieder mehr Papierkram zur Folge, kritisiert er. Die Verschärfungen sind eine Reaktion auf die beiden Pestizid-Initiativen, über welche die Schweiz am 13. Juni abstimmt.
Ein Gefühl wie bei der Autoprüfung
Manche Bauernfamilien sind von der zunehmenden Bürokratie überfordert. Wer gar nicht mehr ein und aus weiss, meldet sich bei Sandra Steffen-Odermatt (41). Die Bäuerin und Buchhalterin hat vor zwei Jahren das «SOS Bauernhof-Büro» gegründet, ein Notfalldienst für Bauern, denen der Papierkram über den Kopf wächst.
«Wenn ich nach einem Einsatz heimfahre, denke ich manchmal, es gibt wahrscheinlich in jedem Dorf einen Bauernhof, der meine Hilfe brauchen könnte», sagt Steffen.
Drei bis fünf Prozent der Arbeitszeit wenden die Bauern laut Agroscope für administrative Tätigkeiten auf. Das klingt vertretbar, doch die meisten Landwirte verfolge die ständige Sorge, etwas falsch zu machen, sagt Steffen. «Sogar ich überlege mir regelmässig, ob ich wirklich an alles gedacht habe.» Ein fehlendes Kreuzchen oder Dokument könne rasch ein paar Hundert oder gar Tausende Franken kosten. «Vor den Kontrollen fühlt man sich jeweils wie vor einer Autoprüfung. Nur dass man sie nicht einmal im Leben hat, sondern bis dreimal pro Jahr.»
Auch Grünen-Nationalrat sieht Handlungsbedarf
Kilian Baumann (40) hat bei den Kontrollen bisher immer bestanden. Im Berner Seeland, 170 Kilometer westlich von seinem Nationalratskollegen Ritter, führt der Grünen-Politiker einen Biohof. Normalerweise haben die beiden das agrarpolitische Heu ganz und gar nicht auf derselben Bühne. Bei diesem Thema stimmt der Grüne Ritter aber zu.
«Wie auch in anderen Bereichen hat die Bürokratie in der Landwirtschaft zugenommen. Ich sehe definitiv auch Handlungsbedarf.» Er selbst verzichte auf gewisse Direktzahlungsbeiträge, weil ihm der damit verbundene «Bürokram» zu aufwendig sei, sagt Baumann. Zum Beispiel melde er neu gepflanzte Hochstamm-Obstbäume nicht, um den administrativen Aufwand zu umgehen.
Bauernlobby nicht unschuldig
Baumann sagt aber auch: «Die Agrarlobby ist nicht ganz unschuldig.» So hatten bürgerliche Bauernvertreter jüngst durchgesetzt, dass die geplante Agrarreform der nächsten Jahre auf Eis gelegt wird. Markus Ritter sagt: Die vorgesehenen Massnahmen hätten noch mehr Bürokratie gebracht. Baumann zufolge wäre hingegen Bürokratie abgebaut worden.
Recht haben beide. Die Agrarpolitik 22+ hätte in manchen Bereichen zu neuem Aufwand geführt, in manchen aber auch zu Erleichterungen. Das Parlament hätte weitere Massnahmen zur administrativen Entlastung der Bauern beschliessen können. Wegen der Opposition des Bauernverbands wird aber erst 2023 entschieden, wie es mit der Landwirtschaft weitergehen soll. Bis dahin müssen Ritter und seine Kollegen weiter Ordner füllen.
Systemwechsel bei Kontrollen bringt Entlastung
Zumindest das Kontrollsystem wurde entschlackt: Neu werden nicht mehr alle Betriebe gleich häufig kontrolliert, sondern Höfe seltener, auf denen in der Regel alles gut läuft. Das Ziel: bis zu einem Fünftel weniger Kontrollen.
Aus Sicht von Bauernpräsident Ritter reicht das aber nicht. Für ihn schmeissen auch immer mehr Bauern wegen des steigenden administrativen Aufwands den Bettel hin. Seine beide Söhne hätten den grössten Respekt nicht vor der Arbeit draussen auf dem Feld. «Sondern vor der drinnen im Büro.»