Die Sonne scheint, die Reben weinen. An den Hängen des Neuenburgersees begutachtet Jean-Denis Perrochet seine knorrigen Weinstöcke und nickt zufrieden. An der Stelle, wo er über den Winter einzelne Zweige abgeschnitten hat, perlt heute ein Tropfen Wasser, die «Träne» der Rebe. «Ein Zeichen dafür, dass die Natur wieder erwacht», erklärt er.
Perrochet – blond, kompakt, stämmig – ist Winzer in sechster Generation. Jahrelang hat er sich für die FDP in der Gemeindepolitik engagiert, ist Vizepräsident der unabhängigen Weinbauern-Vereinigung – und einer der sieben Köpfe hinter der Pestizid-Initiative, die am 13. Juni zur Abstimmung kommt.
Das Bürgerkomitee aus der Romandie will, dass in der Schweiz nur noch Lebensmittel verkauft werden dürfen, die ohne synthetische Pestizide hergestellt wurden. «Wir müssen aufhören, unser Essen zu vergiften», begründet Perrochet sein Engagement. «Jene 80 Prozent der Bevölkerung, die sich keine Biolebensmittel leisten können, müssen heute gesundheitsgefährdende Nahrungsmittel kaufen. Das darf doch nicht sein!»
Pestizide schützen nicht nur den Anbau, sie zerstören auch
Perrochet dachte nicht immer so. Früher verwendete auch er im Weinbau synthetische Pestizide. Der «déclic», der Auslöser für sein Umdenken, kam 2003 mit einer Weiterbildung in Frankreich. Bei einem Bodenspezialisten im Burgund lernte er, dass sogenannte systemische Pestizide nicht nur den Anbau schützen, sondern auch wichtige Pilze im Boden zerstören. Mit anderen Worten: Das Pestizid wirkt nicht nur in der Pflanze, sondern auch dort, wo es gar nicht sollte.
Perrochet: «Da habe ich begonnen, mir Fragen zu stellen.» Aber es brauchte einige Zeit, bis er vollständig auf die biodynamische Landwirtschaft umstellte. «Es ist nicht so einfach, sich einzugestehen, dass man jahrelang schädliche Praktiken angewendet hat», meint der 59-Jährige. Seit 2013 produziert er nun Demeter-Wein; das Label ist noch strikter als der Bio-Standard.
Perrochet und seine Mitstreiter prangern vor allem gesundheitliche Schäden an, die durch synthetische Pestizide verursacht werde. «Sie führen zu Krebs und Fruchtbarkeitsproblemen», meint der Biobauer. Drei Freunde – ebenfalls Winzer und daher häufig in Kontakt mit den Chemikalien – seien an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. «Sie waren noch keine fünfzig.» Das beschäftigt ihn. Auch aus ökologischer Sicht sei der Verzicht auf synthetische Pestizide dringend, fährt Perrochet fort.
Konsequenterweise verlangt die Initiative, dass auch importierte Lebensmittel pestizidfrei sein müssen. «Gewisse Insektizide, die in der Schweiz verboten sind, finden sich in importierten Lebensmitteln weiterhin», meint Perrochet, «das ist doch absurd!»
«Wir subventionieren unsere eigene Wasserverschmutzung»
Nicht nur in der Romandie sorgt sich die Bevölkerung um die schädlichen Folgen der Intensivlandwirtschaft. Fast zur gleichen Zeit, als Perrochet mit seinen Kollegen zusammenkam, machte sich Franziska Herren (53) in Wiedlisbach BE vor fünf Jahren an die Ausarbeitung einer Vorlage: die Trinkwasser-Initiative.
Anders als die Pestizid-Initiative setzt sie nicht auf ein Verbot, sondern auf Anreize: Künftig sollen nur noch jene Bauern Direktzahlungen erhalten, die auf den Einsatz von Pestiziden verzichten. «Heute subventionieren wir mit Steuergeldern unsere eigene Wasserverschmutzung. Wir leben im Wasserschloss Europas – und müssen Trinkwasserquellen schliessen, weil sie mit Pestiziden und Nitrat verseucht sind.»
Wie bei Perrochet gab es auch bei Herren einen Wendepunkt, der bisherige Gewissheiten in Frage stellte. 2011 ging die einstige Fitnessinstruktorin an einer Weide vorbei, als eine Kuh jämmerlich muhte. «Ich fragte den Bauern, was der Grund dafür sei. Er erklärte mir, die Kuh schreie, weil man ihr das Kalb weggenommen habe.»
Herren erschrak. Sie war von ihren Eltern ökologisch erzogen worden – und fragte sich, ob das auch in der Biolandwirtschaft so gehandhabt werde (die Antwortet lautet: ja). Sie begann zu recherchieren. Mit jeder neuen Erkenntnis wurde ihr Entsetzen grösser.
Die Bernerin stellte fest, dass die heutige Tierhaltung auf dem Einsatz von Importfutter und Antibiotika basiert: «Die hohen Tierbestände führen zur Überdüngung der Felder, zu gefährlich hohen Nitratwerten in den Gewässern und Antibiotikaresistenzen in der Nahrung.» Die Abbauprodukte von Pestiziden wiederum fliessen in Bäche, Flüsse und Seen.
Herrens Fazit: «Am Ende landen all diese gesundheitsschädigenden Produkte im Trinkwasser. Selbst wenn man sich gesund und mit Bio ernährt.» Das will sie mit ihrer Initiative angehen: «Ein Weiter wie bisher können wir uns nicht leisten.»
Weniger eigene Lebensmittel führt zu mehr Importen
Ein Weiter wie bisher gebe es ohnehin nicht, entgegnet Martin Rufer, Direktor des Bauernverbands. «Das Parlament hat beschlossen, das Risiko beim Einsatz von Pestiziden bis 2027 um die Hälfte zu reduzieren.» Rufer, dessen Verband die Initiativen bekämpft, hält die Vorlagen für kontraproduktiv.
«Sie haben unter dem Strich stark negative Auswirkungen auf die Umwelt», sagt er und verweist auf eine Studie von Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt des Bundes. «Wenn man den Einsatz von synthetischen Pestiziden verbietet, können die Bauern weniger Lebensmittel produzieren, was zu höheren Importen führt.»
Doch seien im Ausland die ökologischen Standards oft tiefer als in der Schweiz. Zudem führe die Pestizid-Initiative zu höheren Lebensmittelpreisen, was den Einkaufstourismus ankurble. «Ganz zu schweigen von den Arbeitsplätzen in der Lebensmittelindustrie, insbesondere der Kaffee- und Schokoladenindustrie, die mit einem Importverbot aufs Spiel gesetzt würden.»
Auch die Trinkwasser-Initiative habe schädliche Folgen, sagt Martin Rufer. «Jene Betriebe, die auf Dünger und Pestizide angewiesen sind, würden aus den Direktzahlungen aussteigen.»
Damit könnten sie die ökologischen Auflagen des Bundes, für die sie heute entschädigt würden, nicht länger erfüllen. «Die Initiative erfüllt deshalb ihr Versprechen nicht.»