Krach mit dem Roten Kreuz
Schweizer Osteopathen kämpfen um ihre Existenz

Das Rote Kreuz anerkennt weit verbreitete Diplome nicht – mit fragwürdigen Argumenten, sagt eine Gutachterin.
Publiziert: 08.02.2024 um 17:07 Uhr
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Aktualisiert: 09.02.2024 um 11:35 Uhr
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Vielen Osteopathinnen und Osteopathen in der Schweiz droht wegen einer Gesetzesänderung ein Berufsverbot.
Foto: Getty Images
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Gian Signorell
Beobachter

Ein Dieb riss Sofie Lehner das Handy aus der Hand und gab Fersengeld. Die gut trainierte Frau setzte ihm nach. Es kam zu einem Gerangel. Lehner machte eine Drehbewegung mit dem Bein, spürte sofort einen heftigen Schmerz im Knie und musste den Dieb ziehen lassen. Die medizinische Diagnose ergab: Unhappy Triad, eine Kombinationsverletzung im Knie, bei der Innenband, Meniskus und Kreuzband geschädigt sind. Sofort kam die Frage auf: operieren oder nicht?

«Ein Orthopäde riet mir dringend zum Eingriff, ein zweiter riet mir ebenso dringend davon ab», erzählt Sofie Lehner, die in Wirklichkeit anders heisst. «Ich entschied mich, den Weg ohne OP zu gehen.» Der Osteopath Daniel Piller unterstützte sie auf diesem Weg. Sie kann heute wieder intensiv Sport treiben. «Es war der richtige Entscheid», so Lehner.

Komplettes Berufsverbot droht

Der Berner Daniel Piller hat Physiotherapie studiert und sich danach fünf Jahre lang berufsbegleitend zum Osteopathen ausgebildet. 2012 schloss er den Masterstudiengang an der Fachhochschule Innsbruck ab und begann in der Schweiz zu praktizieren. Nach eigener Einschätzung ist er damit besser ausgebildet als die meisten in der Schweiz praktizierenden Osteopathen. Jetzt droht ihm wegen einer Gesetzesänderung ein komplettes Berufsverbot. Denn ab 2025 darf in der Schweiz nur noch Osteopathie praktizieren, wer entweder in der Schweiz studiert hat oder einen gleichwertigen Bildungsabschluss vorweisen kann. Letzteres wird im Fall von Daniel Piller verneint.

Wie Piller ergeht es vielen Osteopathinnen und Osteopathen in der Schweiz. Der Grund ist einfach: Ein Ausbildungsangebot für die noch junge, alternativmedizinische Therapieform gibt es in der Schweiz noch nicht lange. Erst seit 2014 bietet die Hochschule für Gesundheit Freiburg den Studiengang Bachelor of Science in Osteopathie an. Die jährliche Teilnehmerzahl ist beschränkt auf 30, im Jahr 2019 machten die ersten Absolventen ihren Abschluss.

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«Hochprotektionistische Anerkennungspraxis»

Die meisten aktiven Osteopathen haben darum einen ausländischen Bildungsabschluss. Die Vereinigung akademischer OsteopathInnen Schweiz (Vaos) schätzt die Zahl auf mehrere Hundert.

Zuständig für die Prüfung ausländischer Diplome ist das Schweizerische Rote Kreuz (SRK). Doch bei den Bewilligungen harzt es gewaltig: Das SRK anerkennt fast keine ausländischen Masterabschlüsse: 2021 gab es bloss drei Bewilligungen, 2020 gar keine. Die Vaos spricht in einem Positionspapier von einer «hochprotektionistischen Anerkennungspraxis» des SRK.

Masterdiplome der Fachhochschule Innsbruck etwa, wie sie Daniel Piller vorweisen kann, erachtet das SRK als nicht vergleichbar mit dem in der Schweiz anerkannten Beruf. Doch mit dieser Einschätzung blitzte das SRK vor Bundesverwaltungsgericht ab. Geklagt hatte Emanuel Diekmann, der in Chur eine Naturheilpraxis betreibt und wie Piller einen Masterabschluss der Innsbrucker Fachhochschule hat. Im Anerkennungsverfahren hatte sich das SRK geweigert, die Gleichwertigkeit dieses Diploms überhaupt zu prüfen. Begründung: In Österreich seien weder der Beruf noch die Ausbildung reglementiert. Das Bundesverwaltungsgericht sah es anders. Bei Diekmanns Diplom handle es sich sehr wohl um einen staatlich anerkannten Ausbildungsnachweis, urteilten die Richter. Das SRK musste darum noch einmal über die Bücher.

SRK lehnt erneut ab

Die zuständige SRK-Kommission lehnte die Anerkennung erneut ab. Dieses Mal mit einer anderen Argumentation: Das Berufsbild des Osteopathen in Österreich sei nicht mit demjenigen in der Schweiz vergleichbar. In Österreich muss ein Arzt oder eine Ärztin den Patienten zu einem Osteopathen überweisen. In der Schweiz können Osteopathen auch als sogenannte Erstansprecher arbeiten. Ärztliche Überweisung ist nicht nötig. Das bedingt, dass Osteopathinnen und Osteopathen eine medizinisch fundierte Diagnose stellen können.

Sie müssen also erkennen, ob sich die Beschwerden überhaupt durch eine osteopathische Therapie heilen lassen – oder ob die Patientin in schulmedizinischer Behandlung besser aufgehoben ist. Aufgrund dieser Unterschiede kam das SRK zum Schluss, dass es sich nicht um den gleichen respektive nicht um einen vergleichbaren Beruf handle. So trat es auf das Anerkennungsgesuch erst gar nicht ein.

Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot?

Zu einem anderen Schluss kommt ein Gutachten. Es wurde im Auftrag der Osteopathen-Vereinigung von Astrid Epiney verfasst, die an der Universität Freiburg Europarecht lehrt. Sie untersuchte, unter welchen Voraussetzungen auf ein Anerkennungsgesuch einzutreten ist. Ihr Fazit: Die Vergleichbarkeit von Berufen sei nur dann zu verneinen, wenn sehr grosse Unterschiede zwischen den in Frage stehenden Tätigkeitsbereichen bestehen; allein der «Erstversorgungscharakter» einer Tätigkeit reiche dafür nicht aus.

Und selbst wenn die Ähnlichkeiten nicht gross wären, müsste geprüft werden, ob eine Ablehnung der Anerkennung nicht das Diskriminierungsverbot verletze, das im Freizügigkeitsabkommen verankert ist. Ein «pauschales» Nichteintreten auf ein Gesuch um Diplomanerkennung sei unzulässig, wenn sich Teilbereiche der Tätigkeiten im Herkunfts- und im Aufnahmestaat überschneiden. «Die Argumentation des SRK erscheint daher wenig überzeugend», sagt Epiney zusammenfassend.

Das SRK will sich zum Fall Diekmann aufgrund des laufenden Verfahrens nicht äussern. «Wir müssen uns im Anerkennungsverfahren an die geltenden gesetzlichen Grundlagen halten. Anpassungen dieser Gesetze liegen nicht im Kompetenzbereich des SRK», teilt eine SRK-Sprecherin mit.

Bundesverwaltungsgericht hat das letzte Wort

Das letzte Wort liegt erneut beim Bundesverwaltungsgericht. Gut möglich, dass es den Fall dann wieder zur Neubeurteilung ans Rote Kreuz zurückschickt. So läuft den betroffenen Osteopathinnen und Osteopathen die Zeit davon. Denn bis im Februar 2025 müssten sie im Besitz eines anerkannten Diploms sein. Bei dem Tempo, das SRK und Gerichte bisher an den Tag gelegt haben, ein Ding der Unmöglichkeit.

Kein Verständnis für das juristische Seilziehen hat Patientin Sofie Lehner. «Daniel Piller hat mich medizinisch und menschlich durch eine schwierige Zeit begleitet. Seine Kompetenz steht für mich ausser Frage. Die Vorstellung, dass er mangels Fachwissen und Können mit einem Berufsverbot belegt wird, finde ich absurd.»

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