Auf einen Blick
- Die Schweizer Bevölkerung unterstützt den bilateralen Weg mit der EU
- Bevölkerung ist bereit, zugunsten erfolgreicher Verhandlungen Kompromisse einzugehen
- Am kritischsten sind Schweizer bei Europäischem Gerichtshof und Unionsbürgerrichtlinien
Es war der Schlagabtausch des Sommers: Justizminister Beat Jans (60, SP) plädierte in der NZZ für das institutionelle Abkommen mit der EU. Er argumentierte, dies würde die Souveränität der Schweiz stärken und Rechtssicherheit schaffen. Seine Offensive, die auf eine Einigung mit der EU bis Jahresende abzielt, stiess sofort auf Widerstand. Alt Bundesrat Ueli Maurer (73, SVP) warf Jans in einer Replik vor, Fakten zu verzerren und die Unabhängigkeit der Schweiz zu gefährden.
Im vergangenen Winter wurde die EU-Diskussion mit der Wiederaufnahme des Verhandlungsmandats neu lanciert. Nun zeigt eine repräsentative Umfrage von gfs.bern im Auftrag von Interpharma, die Blick exklusiv vorliegt: Die Schweizer Bevölkerung unterstützt den bilateralen Weg mit der EU. In der Befragung, sie wurde diesen Sommer bei 2000 Stimmberechtigten in der Schweiz durchgeführt, stehen so viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den bilateralen Verträgen positiv gegenüber wie in den vergangenen zehn Jahren nicht.
65 Prozent der befragten Personen sehen hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen. Gleichzeitig stieg auch die Kritik an den Abkommen, 19 Prozent sehen Nachteile. «Die zunehmende Polarisierung der Ansichten hat mit der intensiveren Diskussion über das aktuelle Verhandlungsmandat zu tun», erklärt GFS-Studienautor Urs Bieri.
Hohe Kompromissbereitschaft beim Lohnschutz
Interessant dabei: In den Gesprächen mit der EU hat der Bundesrat durchaus Spielraum. Die Stimmberechtigten wären mit sämtlichen diskutierten Verhandlungspunkten mehrheitlich einverstanden. Und zwar auch, wenn die Schweiz Kompromisse schlucken müsste.
Besonders hoch ist die Bereitschaft, beim Lohnschutz Kompromisse einzugehen: 85 Prozent der Befragten wären dazu bereit, was einem bemerkenswerten Anstieg um 30 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr entspricht. «Es ist wohl eine Reaktion auf die laut gezogene rote Linie der Gewerkschaften in dieser Frage», sagt Bieri.
Diese Kompromissbereitschaft sei jedoch nicht als Wunsch nach einer Abschaffung der Lohnschutzmassnahmen zu verstehen, die in früheren Verträgen als erfolgreich wahrgenommen wurden. «Vielmehr signalisiert die Bevölkerung, dass es in dieser Frage kein grundsätzliches Tabu gibt», sagt Bieri. Ebenso wird eine Öffnung des Schweizer Strommarkts von 63 Prozent der Befragten in Betracht gezogen.
«Entscheidend ist, ob Kompromiss breit genug gefasst ist»
In den übrigen Themenfeldern fallen die Mehrheiten jeweils knapp aus. Eine kleine Mehrheit zeigt sich bereit, EU-Recht im Rahmen bestehender Verträge zu übernehmen, sofern das Referendumsrecht gewahrt bleibt (55 Prozent).
Die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei Streitigkeiten zu EU-Verträgen findet 50 Prozent Zustimmung, wobei beide Punkte in den letzten zwei Jahren an Zustimmung verloren haben.
Hingegen wäre nur eine Minderheit bereit, einen Kompromiss bei der Übernahme der Unionsbürgerrichtlinien einzugehen (47 Prozent), also die Regelung der Freizügigkeit und des Aufenthalts von EU-Bürgerinnen und -Bürgern. Dies, obwohl die Akzeptanz hierfür seit dem letzten Jahr deutlich gestiegen ist.
«Der entscheidende Punkt wird sein, dass der Kompromiss breit genug gefasst ist, um eine breite Mehrheit hinter sich zu vereinen», sagt Studienautor Bieri.
Die Bevölkerung sieht die bilateralen Abkommen also weiterhin als beste Option für die Beziehungen zur EU. Ein neuer Vertrag zwischen der Schweiz und der EU, der die diskutierten Abkommen und Kompromisse umfasst, würde von einer klaren Mehrheit (71 Prozent) unterstützt werden. Lediglich 25 Prozent der Stimmberechtigten wären eher oder stark dagegen.
«Der Wohlstand der Schweiz ist stark von den wirtschaftlichen Beziehungen mit anderen Ländern abhängig. Denn ein starker Forschungsstandort mit einer grossen Innovationskraft ist nicht im Alleingang möglich», sagt René Buholzer, CEO von Interpharma. Konsequenterweise sprächen sich die Stimmberechtigten klar für eine Zusammenarbeit mit der EU, unserer wichtigsten Handelspartnerin, aus.
SVP nicht nur dagegen
Interessant sei, dass sich diese positive Einschätzung durch alle politischen Lager ziehe – selbst im rechtskonservativen Spektrum, gerade auch bei den SVP-Anhängern, würden die Bilateralen teilweise als kluge Lösung wahrgenommen, sagt Bieri.
Und doch gibt es Unterschiede: Besonders hohe Zustimmungswerte finden sich im links-grünen Spektrum. Auch bei den Bürgerlichen ist die Zustimmung hoch. Die SVP-Anhängerschaft ist mit 50 Prozent gespalten, ebenso Stimmbürger ohne klare Parteipräferenz. Regional betrachtet ist die Zustimmung in der Deutschschweiz mit 74 Prozent höher als in der Romandie (66 Prozent) und der italienischsprachigen Schweiz (53 Prozent). Zudem ist die Zustimmung in städtischen Gebieten (75 Prozent) höher als in ländlichen Regionen (66 Prozent).