Der Schock vom 19. März 2023 war noch nicht überwunden. Soeben hatte der Bundesrat per Notrecht das Ende der stolzen Zürcher Grossbank Credit Suisse besiegelt. Und schon preschte Thierry Burkart (48) vor. In den Medien präsentierte der stets jugendlich-dynamisch wirkende FDP-Präsident instinktsicher seinen brandneuen Vorstoss, nur drei Tage nach dem denkwürdigen Termin: Wenigstens die CS Schweiz müsse als eigenständige Aktiengesellschaft in die Zukunft gerettet werden, forderte der Aargauer Ständerat. Die Schlagzeilen waren ihm gewiss. «Die Credit Suisse soll doch nicht sterben», titelte CH Media salbungsvoll.
Lange hausierte der Zampano mit seinem Ansinnen allerdings nicht. Binnen weniger Wochen wechselte er bei dem Thema in den Flüsterton. Die Frage der Verselbstständigung stelle sich «erst in einer zweiten Phase», wiegelte er im April gegenüber der «WoZ» ab. Bald verschwand Burkarts Projekt diskret in der Schublade; und die zuständige Kommission legte die Sache auf Eis.
Sie wusste besser, wie es um die CS Schweiz steht
Das Manöver gab Rätsel auf. Was der Öffentlichkeit verborgen blieb: Beim präsidialen Kurswechsel hat Karin Keller-Sutter (59) mitgewirkt. Denn die Finanzministerin gehört zum exklusiven Kreis der Eingeweihten, die zu jenem Zeitpunkt wussten, wie marode die CS Schweiz in Tat und Wahrheit längst war. Ein Gang in die Selbstständigkeit wäre für die Bank und das Ansehen des Finanzplatzes einem Himmelfahrtskommando gleichgekommen. Also fackelte die FDP-Bundesrätin nicht lange und stoppte ihren tollkühnen Parteichef.
Auf Anfrage entgegnet Burkart, dass er nicht von irgendjemandem gestoppt worden sei. Er bedaure das Ende der Credit Suisse aus volkswirtschaftlicher Sicht. Und räumt ein: «Allerdings hätte eine Abspaltung der CS Schweiz einerseits ein schnelles Handeln verlangt und andererseits ist es offensichtlich so, dass die CS für einen solchen Schritt bereits in einem zu schlechten Zustand ist.»
«Ich kann gut fokussieren», sagt sie
Die Episode verrät einiges über den Status der momentan mächtigsten Frau in der Schweizer Politik. Zuvor hatte sie zwischen Washington, London, Brüssel und Riad die Fäden zusammengehalten, um die Weltwirtschaft vor einem Crash zu bewahren. Sie jonglierte in akzentfreiem Englisch zwischen Regierungen und Notenbanken, sie disziplinierte die Bankmanager mit ihren Ego-Spielen und Animositäten – und scheinbar nebenbei schaute sie in den Niederungen der Parteipolitik zum Rechten; Karin Keller-Sutter, in der Bundesstadt kurz KKS genannt, verliert auch in hektischen Phasen die Bundesberner Machtmechanismen nie aus den Augen. «Ich kann gut fokussieren», sagte sie im August im SonntagsBlick-Interview über jene Tage.
So ist es beinahe zur Gesetzmässigkeit geworden, dass bei spektakulären Wendungen unter der Bundeshauskuppel über Keller-Sutters mögliche Mitwirkung geraunt wird. Wie zum Beispiel bei der Nachfolge von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga (63) letzten Dezember. Hatte die Ostschweizerin in der FDP-Fraktion hinter den Kulissen für Elisabeth Baume-Schneider (59) geweibelt, um die profilierte Basler Finanzpolitikerin Eva Herzog (61) als Konkurrentin zu verhindern? «Keller-Sutter soll dahinterstecken», titelte der Blick. Überraschungssiegerin Baume-Schneider geriet bald nach ihrer Wahl unter die Räder, sie scheiterte im Juni im Ständerat unrühmlich mit ihren Plänen für Asylunterkünfte. Worauf das Narrativ der überforderten Jurassierin die Runde machte; es soll auffällig oft aus dem Finanzdepartement zu hören gewesen sein, wie es im Stöckli heisst.
Auch die Verhinderung des 700-Millionen-Pakets für Kita-Subventionen vor zwei Wochen in der kleinen Kammer fiel – natürlich – ganz im Sinne Keller-Sutters aus.
Vergleichbar mit Doris Leuthard und Christoph Blocher
Bereits legendär ist die Beerdigung des Rahmenabkommens im Mai 2021. Ein entscheidender Faktor, da sind sich Freund und Feind einig, war das tatkräftige Lobbying der FDP-Bundesrätin, die damals dem Justizdepartement vorstand und ihrem Parteikollegen, Aussenminister Ignazio Cassis (62), schon länger das Leben schwer machte. Jene Tage haben ihren glänzenden Draht zu Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (55) gefestigt.
Keller-Sutter, das schildern Parteivertreter, redet bei der FDP nicht mit – sie regiert mit. Sie bringt sich an Fraktionssitzungen ein, betrachtet Themen aus taktischer Sicht, denkt über Dossiergrenzen hinweg. Kein anderes Bundesratsmitglied greift so stark in die eigenen Parteigeschicke ein wie sie. Vergleichbar in jüngerer Vergangenheit waren Doris Leuthard (60), die während ihrer Amtszeit von 2006 bis 2018 den Kurs der CVP wesentlich mitprägte, und Christoph Blocher (82), der in den Nullerjahren auch als Justizminister der starke Mann der SVP geblieben war.
«Sie hat einen gewissen Einfluss»
Das ist nur möglich bei einer funktionierenden Achse zum Parteichef. Dass die Frau aus Wil SG mit Kurzhaarschnitt und einem Faible für Akris-Mode die FDP «faktisch führt», wie es eine Nationalrätin sagt, wird Burkart aber nicht gerecht – seit er die FDP-Leitung 2021 von Petra Gössi (47) übernommen hat, drückt er dem Freisinn merklich seinen Stempel auf: In Migrationsfragen und europapolitisch fährt man einen rechtsbürgerlichen Kurs, das Lager der Euroturbos wurde ausgebremst, punkto Neutralität und Rüstungsexporte setzt der Aargauer seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs auf prowestlichen Pragmatismus. Und all das geschieht – in Einigkeit mit Keller-Sutter.
Dass er mit seiner Magistratin in engem Kontakt steht, sei kein Geheimnis, sagt Thierry Burkart gegenüber SonntagsBlick. «Und es ist klar», so der FDP-Chef weiter, «als Bundesrätin hat sie einen gewissen Einfluss auf die Partei. Aber letztlich befinden wir uns in zwei unterschiedlichen Rollen: sie als Mitglied der Landesregierung, ich als Parteipräsident.»
Vorgänger Ueli Maurer im Gegenwind
Den Höhepunkt ihrer politischen Karriere feierte sie vor drei Wochen. Am 11. August verkündete UBS-Chef Sergio Ermotti (63), dass man die 109-Milliarden-Garantie nicht mehr nötig habe, die der Bund im März unter Keller-Sutters Federführung gesprochen hatte. Für sie war die Nachricht der Befreiungsschlag, nun geht sie als jene in die Geschichte ein, die im Credit-Suisse-Drama die Finanzwelt vor dem Schlimmsten verschonte. Die Kritik an ihr – das Durchregieren per Notrecht, das Verhökern der CS zum Schleuderpreis an die Rivalin, die Enteignung der Aktionäre – verblasst.
Der Erfolg des FDP-Aushängeschilds macht die Hauptkonkurrentin im bürgerlichen Lager nervös. Die SVP schiesst aus allen Rohren gegen sie. Nur 13 Minuten waren nach den News vom 11. August vergangen, bis die SVP mit einem Statement gegen den freisinnigen Filz vom Leder zog. Das hat man in der FDP-Zentrale gemessen. Bei der grössten Partei im Land wollen die Strategen um jeden Preis verhindern, dass Keller-Sutters Vorgänger Ueli Maurer (72), der dem Finanzdepartement bis 2022 sieben Jahre lang vorstand, ausgerechnet im Wahljahr als Mitverantwortlicher des CS-Debakels in die Annalen eingeht. Maurer wird parteiübergreifend für seine Laisser-faire-Haltung an der Bahnhofstrasse getadelt. Dass Keller-Sutter in der Öffentlichkeit vornehme Zurückhaltung gegenüber ihrem Vorgänger übt, lindert den Zwist zwischen den beiden bürgerlichen Parteien ebenso wenig wie die Listenverbindungen in zahlreichen Kantonen.
Am Donnerstag erfolgte ein weiterer Paukenschlag. UBS-CEO Ermotti gab bekannt, dass seine Bank die CS ganz schlucken wird. Die Credit Suisse ist nach 167 Jahren Geschichte. Tags darauf, am Freitag, konnte Thierry Burkart in der «NZZ» noch einmal seine Idee einer Abspaltung der CS Schweiz vortragen – diesmal aber gab er sich geläutert. Die Bank sei dafür «in einem zu schlechten Zustand» gewesen.