Kaum war die neue SP-Asylministerin Elisabeth Baume-Schneider (59) im Amt, strich die SVP die Zahlen heraus: 2022 verzeichnete die Schweiz 75'000 ukrainische Flüchtlinge und 24'500 Asylgesuche, 64 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Volkspartei zeigte sofort auf Baume-Schneider: «Es kommen zu viele Ausländer und die falschen – trotzdem will die SP-Bundesrätin noch mehr aufnehmen.» Baume-Schneider reagierte; allerdings nicht so, wie von der SVP verlangt.
Die Bundesrätin sorgte dafür, dass jugendliche ukrainische Flüchtlinge eine Lehre beginnen und beenden können. Und sie will das sogenannte Resettlement-Programm wiederbeleben, das ihre Vorgängerin Karin Keller-Sutter (59) Ende 2022 sistierte. Das Programm ermöglicht es besonders verletzlichen Flüchtlingen, vor Ort ein Asylverfahren zu durchlaufen.
«Damit setzt die Bundesrätin völlig falsche Zeichen», sagt SVP-Nationalrätin Martina Bircher (38, AG). Sie rechnet vor: «Wegen ihrer hohen Schutzquote kann die Schweiz nur 40 Prozent der Asylbewerber abweisen. Bei diesen beträgt die Rückführungsquote wiederum 50 Prozent. Das heisst, dass vier von fünf Asylbewerbern trotz negativen Entscheids für immer hier bleiben.» Dies sei umso bedenklicher, weil die Zahl der Asylanträge im laufenden Jahr noch massiv zunehme.
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Migrationspolitik ist Innenpolitik
Die Rückführungsquote beschäftigt auch FDP-Ständerat Damian Müller (38, LU): «Zu den Ländern, die keine Rückführungen zulassen, gehört Eritrea. Aber Hunderte von Eritreern benötigen gar keinen Schutz durch die Schweiz. Sie nehmen Platz in Beschlag, den schutzbedürftige Flüchtlinge brauchen.» Müller hat eine Motion eingereicht. Er fordert den Bundesrat auf, einen Drittstaat zu finden, der abgewiesene Eritreer aufnimmt.
Der Asyldruck bleibt hoch – besonders auf das Staatssekretariat für Migration (SEM). Ende Februar waren dort 12'300 Asylgesuche hängig. Das Parlament hat zwar 75 zusätzliche Stellen genehmigt. «Diese Kapazität reicht jedoch nicht aus, um die in den kommenden Monaten erwarteten Gesuche bearbeiten zu können», sagt das SEM zu SonntagsBlick. «Deshalb rekrutieren wir weiteres zusätzliches Personal.»
Im Zentrum des Sturms steht SEM-Direktorin Christine Schraner Burgener (59). Die erfahrene Diplomatin übernahm Anfang 2022 die Leitung. Zu Beginn gelobt für ihren Arbeitseifer, weht ihr im Bundeshaus mittlerweile ein kühlerer Wind entgegen. Ihr Vorgänger Mario Gattiker (66) sei aktiv auf die Abgeordneten zugegangen, sagt ein bürgerlicher Parlamentarier. Er habe jeweils frühzeitig vertraulich informiert und so unaufgeregte Findungsprozesse ermöglicht. «Gattiker hat verstanden, dass Migrationspolitik in erster Linie Innenpolitik ist», sagt der Parlamentarier. «Schraner Burgener tut das nicht.»
Kommunikation noch wichtiger
Jüngstes Beispiel: Das SEM besteht aus vier Direktionsbereichen, doch ab Mai sind es fünf. Die Direktion Asyl wird aufgespalten. Der Bereich Bundeszentren bildet neu eine eigene Direktion. Das SEM liess im Februar eine kurze Medienmitteilung dazu raus. Bloss mitgekriegt hat es keiner. Verschiedene Parlamentarier hörten diese Woche zum ersten Mal davon – von SonntagsBlick.
Dabei ist die Ende 2022 beschlossene Reorganisation ein zünftiger Einschnitt. Mit 780 Angestellten ist die Direktion Asyl der grösste Bereich des SEM. Die Aufspaltung sorgt für Unsicherheit, bei einigen Angestellten auch für Unmut. «Bedenken wurden von Anbeginn aufgenommen», sagt das SEM. Die interne Projektleitung habe die neue Organisationsstruktur mit den neuen Zuständigkeiten und Abgrenzungen gemeinsam mit den involvierten Stellen erarbeitet.
Die Kommunikation dürfte in den kommenden Monaten noch wichtiger werden– auch gegenüber dem Parlament. Denn dort wartet die SVP. Und sie wird wohl die Zahlen auf ihrer Seite haben. Das SEM selbst hat am Donnerstag ein vertrauliches Lage-Update an die Kantone geschickt, das mit neuen Prognosen zu den Ukraine-Flüchtlingen aufwartet. Das Papier liegt SonntagsBlick vor.
Antworten vom Blatt vorgelesen
Darin skizziert das SEM zwei Szenarien: Eine vergleichsweise milde Vorschau rechnet mit bis zu 2400 neuen Anträgen für den Schutzstatus S im März, das zweite Szenario ist deutlich pessimistischer. Es geht davon aus, «dass ein Ereignis eintritt, das zu bis zu 35'000 zusätzlichen S-Anträgen (verteilt über drei Monate oder innerhalb weniger Wochen) führt. Eine solche Zunahme kann bei einer erfolgreichen russischen Offensive im Frühjahr oder Sommer 2023 oder bei signifikanten Versorgungsengpässen im Energiebereich im Winter 2023/24 eintreten.»
Eine solche Entwicklung sei zurzeit eher unwahrscheinlich, hält das SEM fest – aber sie ist eine von zwei Möglichkeiten, welche die Behörde den Kantonen präsentiert.
Schraner Burgener ist seit einem Jahr im Amt, Baume-Schneider bald hundert Tage. «Das ist eine herausfordernde Konstellation», sagt Mitte-Präsident Gerhard Pfister (60). Die SP-Bundesrätin habe bislang nur kleine Akzente in einem spezifischen Bereich gesetzt. «Sie ist noch wenig spürbar.» Das habe sich in der Session gezeigt, als sie ihre Antworten auf Vorstösse der SVP vom Blatt abgelesen habe. «Sie muss künftig argumentativer auftreten», sagt Pfister.
Morgen hat Baume-Schneider dazu Gelegenheit: Im Zürcher Schiffbau spricht sie erstmals über ihre ersten hundert Tage im Amt.