Hängt der Bund Regionen ab?
«Wir fühlen uns im Stich gelassen»

Das Sparpaket des Bundes will Gelder für den öffentlichen Verkehr in gewissen Regionen kürzen. Manche Linien werden ganz eingestellt, wie in Gurtnellen UR. Ein Besuch vor Ort, wo die Bewohner um ihren Dorfbus kämpfen.
Publiziert: 12:59 Uhr
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Aktualisiert: vor 21 Minuten
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Astrid Dittli vor ihrem Gasthof in Gurtnellen.
Foto: Kim Niederhauser

Darum gehts

  • Gurtnellen verliert Busverbindung
  • Dorfgemeinschaft kämpft für ÖV-Anschluss
  • Sparpaket des Bundesrats trifft ÖV in den Randregionen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Céline ZahnoRedaktorin Politik

Felswände ragen hinter dem Gasthaus von Astrid Dittli (61) in den Himmel, unten im Tal rauscht der Transitverkehr in Richtung Gotthardtunnel. Gurtnellen UR ist menschenleer. Nur um einen der Eichentische im Restaurant hat sich eine kleine Gruppe versammelt. Angereist sind sie alle mit dem Auto. Der obere Teil des 500-Seelen-Dorfs wurde nämlich vom öffentlichen Verkehr abgehängt.

Vor vier Jahren ist der Bus das letzte Mal die kurvige Strasse hinaufgefahren, an deren Ende sich eine Handvoll Häuser reiht. Die Strecke zu betreiben, lohne sich nicht mehr, teilte der Kanton Uri der Gemeinde mit. «Das war wie ein Schlag ins Gesicht», sagt Dittli. «Man fühlt sich im Stich gelassen.» Seither fehlen ihr Gäste. Jassgemeinschaften aus dem Tal kämen etwa nicht mehr nach oben. Wanderer aus Richtung Arnisee passierten das Dorf eigentlich am Ende ihrer Route. Ohne den Bus zum nächstgelegenen Bahnhof würden sie nun oftmals ausweichen.

«Sogar Christoph Blocher landete nach einer Wanderung am Arnisee einmal bei uns im Dorf und wunderte sich, wo der Bus bleibt», erzählt Dittli. «Wir mussten ihm dann erklären, dass der eingestellt wurde.»

Das Thema Bus bewegt die Gurtneller. Neben der Betreiberin des Gasthofs haben an diesem Donnerstagmorgen auch ein Landrat, ein Gemeinderat, der Geschäftsführer eines Transportunternehmens und ein engagierter Bürger Zeit gefunden, das Problem aus ihrer Sicht zu schildern. «Es ist wieder etwas, was wegfällt», sagt etwa der FDP-Landrat Joe Inderkum (60). Viele Junge würden das Dorf sowieso verlassen. «Wir möchten, dass sie hier eine Perspektive haben, dass wenigstens ein paar bleiben.» Man fühle sich machtlos. Die Runde nickt beipflichtend.

Sparpaket bedroht ÖV in Randregionen

So wie Gurtellen könnte es schon bald vielen Schweizer Gemeinden ergehen. Das Sparpaket des Bundesrats, das sich noch in der Vernehmlassung befindet, trifft den Regionalverkehr mitten ins Herz. Es geht um den sogenannten Kostendeckungsgrad: Dieser gibt an, zu welchem Anteil sich eine Linie selbst durch Billettverkäufe finanziert. Bund und Kantone zahlen mit Subventionen den Rest.

Der Bundesrat will diesen Prozentsatz nun erhöhen. So müsste der Bund weniger Geld an die regionalen Verkehrsbetriebe zahlen und diese im Gegenzug ihre Billette verteuern, effizienter werden oder eben ihre Leistungen abbauen.

Schon heute können sich viele Linien in Randregionen kaum noch über Wasser halten. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete (SAB) warnt deshalb: Für weniger stark frequentierte Linien bedeute die Sparmassnahme das Aus. Das treffe vor allem ländliche und Bergregionen. Auch der Schweizer Tourismus-Verband und die Umweltallianz stellen sich in ihren kürzlich veröffentlichten Vernehmlassungsantworten dezidiert gegen die Pläne.

Fahrdienst auf Abruf

Die Sparmassnahme stelle besonders finanzschwache Kantone wie Uri vor Probleme, so Thomas Aschwanden, Leiter der Fachstelle öffentlicher Verkehr des Kantons Uri. «Ohne Beiträge des Bundes wären die Kosten für viele Urner Linien für Kanton und Gemeinden allein nicht mehr finanzierbar.»

In Gurtnellen haben Kanton und Gemeinde mittlerweile für eine alternative Lösung gesorgt. Im Rahmen eines Pilotprojekts finanzieren sie einen Fahrdienst des Unternehmens Mybuxi. Kleinbusse können über eine App oder telefonisch bestellt werden. Der Betrieb sei wirtschaftlicher, da die Kosten von der tatsächlichen Nachfrage abhängen würden.

Ob das Projekt langfristig weitergeführt wird, ist derzeit aber noch unklar. Heute finanzieren Kanton und Gemeinde das Pilotprojekt ohne Beitrag des Bundes. «Begrüssenswert wäre, wenn der Bund künftig derartige Angebote ebenfalls finanziell mitunterstützen würde.» Derzeit prüfe man mit den Gemeinden, ob das Angebot weitergeführt werden kann, so Aschwanden.

Laut der Gasthof-Betreiberin Astrid Dittli sei man mit dem System eigentlich zufrieden – auch Blocher habe man damals mit einem Rufbus zurück ins Tal geschickt. Viele Besucher blieben allerdings noch immer weg, da der Fahrdienst nur wenig bekannt sei. «Es ist schwierig, den Rufbus bei der älteren Bevölkerung beliebt zu machen.» Und vor allem sorgt sich Dittli um die unsichere Zukunft. «Wenn auch der Shuttle wegfällt, wird es mit dem Restaurant sehr schwierig.»

Momentan prüft das Bundesamt für Verkehr (BAV), ob die gesetzlichen Regeln für Abruf-Angebote wie Mybuxi mit einer Anpassung der Konzessionspflicht vereinfacht werden könnten, heisst es auf Anfrage von Blick. Zu den Auswirkungen des Sparpakets schreibt das BAV, es sei nicht auszuschliessen, «dass einzelne, schwach genutzte Angebote wegen ungenügenden Kostendeckungsgraden verschwinden oder nicht umgesetzt werden».

«Sind zu alt zum Protestieren»

Für Valentin Sicher (75) reicht ein Fahrdienst auf Abruf nicht. Er war als Bauingenieur einst am Bau des Gotthard-Basistunnels beteiligt. Nun kämpft er als Präsident des Vereins Dorfbus Gurtnellen an vorderster Front dafür, dass sein Geburtsort wieder an den öffentlichen Verkehr angeschlossen wird.

«Wir sind zu alt, um auf der Strasse zu protestieren», sagt Sicher. Das Dorf wusste sich aber anders zu helfen: Zusätzlich zum Rufbus hat der Verein auf eigene Faust einen Shuttlebetrieb organisiert. Während der Sommermonate bis Mitte Oktober fährt der Shuttle jeden Nachmittag während zwei Stunden ins Dorf. Der Fahrdienst wird mit Spenden finanziert. Wie lange das klappen kann? Unklar.

Trotz allen Kampfgeistes: Die Schicksalsgemeinschaft weiss über das periphere Dasein von Gurtnellen zu witzeln. Man organisiere jetzt jedes Mal ein Dorffest, wenn sich jemand Junges dazu entscheide, in Gurtnellen zu bleiben. «Und immerhin sind wir manchmal auf der Wetterkarte von Bucheli eingezeichnet», sagt Sicher. «Ich schalte immer nur dann ein.»

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