SonntagsBlick:Frau Mettler, die durchschnittliche AHV-Rente beträgt 1800, die durchschnittliche Pensionskassenrente 1700 Franken. Könnten Sie von diesen Beträgen leben?
Melanie Mettler: Ich könnte schon davon leben, aber ich habe auch relativ tiefe Fixkosten. Und das ist ein wichtiger Punkt: 40 Prozent der reichsten Haushalte in der Schweiz sind Rentnerhaushalte, die nach Abzug aller Fixkosten inklusive Steuern und Gesundheitskosten noch 5000 bis 9000 Franken pro Monat zur freien Verfügung haben. Eine grosse Zahl von Rentnerinnen und Rentnern steht also auf der Sonnenseite des Lebens. Durchschnittszahlen sagen wenig über die Realität aus.
Trotzdem nochmals eine solche Zahl: Frauen beziehen im Durchschnitt ein Drittel weniger Rente als Männer. Die Linke sagt, dass die Situation der Frauen durch die geplante BVG-Reform kaum besser würde.
Da widerspreche ich vehement. Die Frauen profitieren enorm von der Auflösung des Reformstaus. Heute gibt es verschiedene Formen der Erwerbstätigkeit, die vom System der zweiten Säule benachteiligt werden. Teilzeitpensen und tiefe Einkommen sind schlecht versichert. Davon sind besonders Frauen betroffen. Die Reform korrigiert diese Fehler grösstenteils. In allen zur Diskussion stehenden Varianten sind Frauen mit der Reform besser versichert als ohne.
Die Bernerin Melanie Mettler (45) studierte Literaturwissenschaften und promovierte in Anglistik. Sie arbeitet bei einem Zürcher Beratungsunternehmen, das auf Nachhaltigkeitsstrategien spezialisiert ist. 2013 wurde die Grünliberale ins Berner Stadtparlament gewählt. 2019 schaffte sie den Sprung in den Nationalrat. Als Mitglied der Sozialkommission befasst sie sich vor allem mit der beruflichen Vorsorge.
Die Bernerin Melanie Mettler (45) studierte Literaturwissenschaften und promovierte in Anglistik. Sie arbeitet bei einem Zürcher Beratungsunternehmen, das auf Nachhaltigkeitsstrategien spezialisiert ist. 2013 wurde die Grünliberale ins Berner Stadtparlament gewählt. 2019 schaffte sie den Sprung in den Nationalrat. Als Mitglied der Sozialkommission befasst sie sich vor allem mit der beruflichen Vorsorge.
Und die Rentner?
Die aktuellen Rentenbeziehenden sind nicht von Kürzungen betroffen. Obwohl ein grosser Teil der heutigen Rentenhaushalte zu den reichsten Haushalten im Land gehört, müssen sie sich nicht solidarisch an der Auflösung des Reformstaus beteiligen. Das ist eine Schwäche der Reform.
Und die nächsten 15 Rentnerjahrgänge erhalten Zuschläge, um die Senkung des Umwandlungssatzes zu kompensieren. Warum eigentlich? Wenn die Abfallgebühren erhöht werden, gibt es auch keine Kompensationen …
Diese 15 bis 20 Jahrgänge bekamen die Folgen des Reformstaus besonders zu spüren und konnten darum weniger Vorsorgevermögen ansparen. Das sind also auch Kompensationen für den Reformstau – aber nicht mit der Giesskanne, sondern mit einer Vermögensschwelle. Die wohlhabenden Neurentner und -rentnerinnen erhalten keinen Zuschlag.
Die Jungen finanzieren diese Milliarden-Zuschläge – und beziehen später eine tiefere Rente ohne Kompensationen.
Die Last der Jungen reduziert sich mit dieser Reform. Aufgrund des Reformstaus in der zweiten Säule fliessen heute Milliarden Franken pro Jahr von den Erwerbstätigen zu den Pensionierten. Ohne Reform führen wir systemfremde Umverteilungen weiter. Das fällt für die Jungen viel stärker ins Gewicht. Sie profitieren daher am meisten von der Reform.
Klar ist: Die Versicherten müssen den Gürtel enger schnallen. Warum spricht in Bundesbern niemand über die Finanzindustrie, die das Vorsorgegeld verwaltet und jedes Jahr Gebühren in Milliardenhöhe kassiert?
Moment, das Gegenteil ist der Fall! Für die Versicherten sinken die Renten weiter, wenn wir im Reformstau verharren. Wenn wir ihn lösen, steigen die Renten. Aber Sie sprechen die Rentengelderverwaltung an. Das Parlament hat erkannt, dass sich die Anforderungen an eine effiziente Aufsicht über die Anlageverwaltung seit Einführung der zweiten Säule stark verändert haben. Ein Postulat von mir fordert den Bund auf, die Aufsicht über den Pensionskassenmarkt zu überprüfen. So können wir Schwachstellen erkennen und korrigieren. Die Berichte dazu werden demnächst erscheinen. Damit gewinnen wir einen Hebel, um an den richtigen Stellen anzusetzen.
Die Finanzindustrie hat bei der Verwaltung des Vorsorgevermögens grosse Freiheiten – die Versicherten werden seit 1985 zur Einzahlung in die zweite Säule gezwungen. Das ist doch ein Konstruktionsfehler!
1985, als jede Firma ihre eigene Pensionskasse hatte, war diese Konstruktion stimmig – sogar revolutionär. Da wurde ein sozialpartnerschaftliches Sozialwerk geschaffen, das allein durch den Arbeitsmarkt finanziert wird. Aber heute gibt es nur noch wenige Betriebspensionskassen. Stattdessen spielt die Finanzindustrie eine zentrale Rolle. Das Problem ist, dass die Gesetzesgrundlagen immer noch in der Logik der Betriebspensionskassen stecken. Das müssen wir ändern. Deshalb ist es auch so wichtig, diesen Reformstau jetzt endlich aufzulösen.
Wäre es nicht besser, zumindest den obligatorischen Teil des Pensionskassenvermögens in staatliche Obhut zu geben, statt an Gesetzen zu schrauben?
Unser Staat organisiert die zweite Säule in Partnerschaft mit der Privatwirtschaft. Das tut er auch in anderen Bereichen wie dem Gesundheitswesen, was diese Systeme sehr agil und bedarfsgerecht macht. Ihre Qualität ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Wir sehen auch, dass die Beteiligung der Arbeitgebenden in vielen Fällen über das gesetzliche Minimum hinausgeht. Dieses Engagement würde bei einer staatlichen Lösung verloren gehen.
Hat die heutige Organisationsweise auch Nachteile?
Zum Beispiel die hohe Komplexität. Sie erfordert auch mehr Aufwand, um Schlupflöcher für Geldabflüsse zu verhindern, die nicht im Sinn der Versicherten sind. Die Chancen des heutigen Systems können wir nur nutzen, wenn wir reformfähig bleiben. Wenn wir uns hingegen querstellen und zu Korrekturen nicht mehr bereit sind, müssen wir uns vielleicht anders organisieren.
Wir könnten ja auch an der AHV schrauben, zum Beispiel durch die Einführung einer 13. AHV-Rente …
Das Anliegen, die tiefen Renten zu verbessern, ist legitim. Aber die 13. AHV-Rente der SP würde auch an die vielen wohlhabenden Pensionäre gehen – und fünf Milliarden Franken kosten. Ich habe vom Bund ausrechnen lassen, wie teuer eine 13. AHV-Rente wäre, die nur die bedürftigen Rentnerhaushalte unterstützt. Diese machen rund 20 Prozent aus.
Das Resultat?
Eine solche bedarfsgerechte Zusatzrente kostet zehnmal weniger, nämlich 500 Millionen. Das heisst: Von den Lohnbeiträgen für eine 13. AHV, wie die SP sie fordert, fliessen 90 Prozent an wohlhabende Rentnerhaushalte, die dieses Geld nicht brauchen. So verbessern wir die Vorsorgesituation in der Schweiz nicht.
Würden wir das denn tun, wenn wir das Rentenalter auf 66 Jahre erhöhten, wie es die Jungfreisinnigen fordern?
Diese Initiative ist so noch nicht zu Ende gedacht. Aber sie stösst eine wichtige Diskussion an. Wir sind immer länger gesund, und es gibt immer mehr Rentnerinnen und Rentner im Verhältnis zu den Erwerbstätigen. Längere Erwerbstätigkeit ist darum ein Thema. Aber die Frage ist: Für wen? Es gibt Berufe, bei denen eine längere Erwerbsarbeit nicht drinliegt – und auch nicht nötig ist. Umgekehrt haben wir heute in der zweiten Säule 40 Prozent wohlhabende Frühpensionäre. Wir dürfen nicht alle über einen Kamm scheren.