Gewerkschaftsboss Maillard strotzt vor Kraft – und Machthunger
Wer sich ihm in den Weg stellt, zieht meist den Kürzeren

Die gewonnene AHV-Abstimmung ist der persönliche Erfolg von Pierre-Yves Maillard. Doch nach dem Kampf ist vor dem Kampf. Maillard zieht beim Europa-Dossier rote Linien.
Publiziert: 10.03.2024 um 09:03 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2024 um 18:08 Uhr
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So sehen Sieger aus: Pierre-Yves Maillard am Abstimmungssonntag.
Foto: keystone-sda.ch
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Bei der Pizza ist Pierre-Yves Maillard (55) für Änderungen zu haben. Der Gewerkschaftsboss bestellt eine Vegi-Pizza mit Sonderwunsch: nicht ganz vegetarisch, sondern mit Sardellen. «Eine kleine Pizza», betont Maillard und verweist auf seinen Bauch.

Schon vor der gewonnenen Abstimmung über die 13. AHV-Rente war Maillard ein politisches Schwergewicht. Nun strotzt der SP-Ständerat erst recht vor Kraft – und Machthunger. Wer sich ihm in den Weg stellt, zieht oft den Kürzeren. Der ehemalige SP-Fraktionschef Roger Nordmann (50) kann davon ein Lied singen. Er wollte Ständerat werden, am Ende blieb er Nationalrat und Maillard kam ins Stöckli.

So richtig glauben kann Maillard den AHV-Triumph noch nicht. Am Sonntagabend, als das letzte Interview gegeben war, ging er mit Familie und Freunden Tapas essen. «Ich habe in den letzten Wochen immer wieder an eine ältere Frau gedacht, die uns 20 Franken geschickt hatte, mit den Worten: ‹Das ist alles, was ich habe.›» Diesem Grosi habe er sich verpflichtet gefühlt, sagt Maillard.

An der SVP-Tagung erhielt er Zuspruch

Maillard ist ein Geschichtenerzähler. Für komplizierte Zahlen hat der Gewerkschaftsbund seinen Chefökonomen Daniel Lampart (55). Maillard hingegen setzt nicht auf Statistiken, sondern auf Geschichten aus dem Leben. Das Grosi, das ihm 20 Franken schickt. Die Alleinerziehende, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Die Witwe, die Heizkosten fürchtet.

Bereits bei seinem Auftritt an der Albisgüetli-Tagung der Zürcher SVP habe er gemerkt, dass die Stimmung zugunsten der 13. AHV-Rente kippe. «Zu mir kamen viele SVP-Mitglieder und sagten, dass wir recht haben», sagt er und fügt an, er müsse sich noch bei den alt Bundesräten bedanken, die sich per Brief gegen den Rentenzustupf ausgesprochen hatten. «Viele, die über eine Viertelmillion Franken pro Jahr verdienen, haben keine Ahnung, wie es den normalen Menschen geht.»

Auch Arbeitgeberverband und Economiesuisse bekommen von Maillard ihr Fett weg: «Die Top-Löhne explodieren, ebenso die Dividenden. Bevor die Verbände Millionen von Franken in Kampagnen investieren, sollten sie glaubwürdig zeigen, dass die gute Wirtschaftslage allen hilft und nicht nur ihnen.»

Geht es nach dem Gewerkschaftsboss, soll die 13. AHV-Rente bereits im Dezember 2025 ausbezahlt werden. Eine Art Weihnachtsgeld für alle Rentnerinnen und Rentner. «Der Ball liegt nun beim Bundesrat.» Dieser solle den klaren Entscheid des Volkes rasch umsetzen.

Briefe interessieren ihn mehr als Dossiers

Und die Finanzierung? «Wir haben die Details der Finanzierung bewusst ausgeklammert», sagt Maillard. Am liebsten wäre ihm eine Lösung über Lohnbeiträge. Sollte am Ende sogar die Mehrwertsteuer erhöht werden, würde das zwar die Ärmsten überproportional belasten. «Sie hätten aber trotzdem mehr Geld in der Tasche als ohne die 13. AHV», ist der Gewerkschaftsboss überzeugt.

Maillard, der Kümmerer. Auch wenn er gerade den Lauf seines Lebens hat: Maillard sagt, dass er als Waadtländer Regierungsrat mehr im Kleinen bewirken konnte. «Ich hatte jeden Tag das Gefühl, ein Problem gelöst zu haben», sagt er. Auch als Exekutivpolitiker kümmerte er sich am liebsten um die Probleme der kleinen Leute. «Herr Regierungsrat, ich habe meine Wohnung verloren und weiss nicht, wohin ich mit meiner Familie soll»: Solche Briefe interessierten ihn mehr als dicke Dossiers. «Ich konnte nicht immer helfen, aber wir haben es immer versucht.»

Maillard, der Vater Courage der Schweizer Politik, hat gewagt und gewonnen. Doch nach dem Kampf ist vor dem Kampf: Mit dem Europa-Dossier hat Maillard bereits die nächste Herkulesaufgabe vor sich. Maillard betont: Er sei kein Blocher, kein Anti-Europäer, kein Blockierer. Die Gewerkschaften wollten die Löhne schützen und den Service public stärken. «Wenn der Bundesrat uns entgegenkäme, wäre eine Lösung möglich. Aber er hat andere Ziele», sagt er.

Er spiele mit dem Feuer, sagen die Kritiker

Egal, ob es um Spesen geht, um die Liberalisierung des Strommarkts oder um das Monopol der SBB: Maillard ist im Kampfmodus. «Wir möchten die Büchse der Pandora nicht öffnen. Wenn etwas liberalisiert ist, dann lässt sich das Rad schwer zurückdrehen.»

Der Sieg bei der 13. AHV-Rente macht Maillards Machthunger noch grösser. Die Spesenregelung etwa betrifft nur einen kleinen Anteil der ausländischen Arbeiter. Aber deswegen gleich Europa opfern? Dieses Argument lässt der Gewerkschaftsboss nicht gelten. Wer in der Schweiz arbeite, solle auch den Schweizer Spesensatz beziehen. Je nach Branche seien bis zu 20 Prozent betroffen.

Maillards Kritiker sehen das anders. Der ehemalige Schweizer Botschafter Daniel Woker (76) findet, Maillard spiele mit dem Feuer: «Mit seiner Totalopposition setzt er die europäische Zukunft der Schweiz aufs Spiel. Und dies wegen einer Lappalie wie der Spesenregelung, die von den reicheren EU-Ländern durchaus elastisch angewandt wird.» Maillard sagt, ihm gehe es ums Prinzip.

Kinder wollen an den Fussballmatch

An Erholung ist zurzeit nicht zu denken. Zwischen den Jahren war der Gewerkschaftsboss kurz in Engelberg OW, sein Schwiegervater hat dort eine Wohnung. Über Ostern will er mit der Familie nach England reisen. Er hat Karten für das Fussballspiel Liverpool gegen Brighton gekauft, allerdings nur zwei Tickets erhalten. Sohn und Tochter wollen ins Stadion, brauchen aber einen Erwachsenen als Begleitung. «Meine Kinder lieben Fussball und sind Fans von Liverpool», sagt Maillard.

Maillard hat seine Pizza gegessen. Er muss zum nächsten Termin. Ebenso wie er bei der vegetarischen Pizza nicht dogmatisch ist, sei er auch bei den Verhandlungen mit Brüssel für Kompromisse zu haben, sagt er. Unter einer Bedingung: «Die Arbeitnehmenden in der Schweiz müssen zu den Gewinnern zählen.» 

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