Lebhaft wie stets – man könnte sagen nervös – vertröstet Pym, wie er seine SMS unterschreibt, den Blick erstmal für einige Minuten. Dann nimmt sich der Romand jedoch viel Zeit am Telefon. Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, Pierre-Yves Maillard (54), ist in Sorge. Denn für Geringverdiener wird es eng im Herbst, die Teuerung wächst und wächst, die Renten schmelzen, und mit der EU ist es sowieso im Argen. Aber – bei Pym gibt es immer ein Aber – es könnte doch noch alles gut kommen. Aber nicht ganz gut.
Blick: Herr Maillard, sind Sie eine Windfahne? Jetzt bekämpfen Sie die 0,4 Prozent Mehrwertsteuer-Erhöhung für die AHV. Im Juni 2021 wollten Sie gar noch 0,7 Prozent. Wie das?
Pierre-Yves Maillard: Halt! Wir waren immer dagegen, die Mehrwertsteuer-Erhöhung und das höhere Frauenrentenalter zu verknüpfen. Weil wir uns nicht durchsetzen konnten, haben wir gegen die 0,4 Prozent gestimmt. Zentral aber ist: Heute ist die Welt eine andere. Wir alle haben um 3,4 Prozent höhere Preise. Und im Herbst erwartet uns ein Prämienschock bei den Krankenkassen.
Die AHV braucht das Geld!
Eben nicht! Die neusten Zahlen zeigen: Die AHV hat im letzten Jahr 2,6 Milliarden Franken Gewinn gemacht. Ihr Vermögen ist so hoch wie nie. Zudem waren die Prognosen des Bundesrats für die AHV bis im Jahr 2030 um 15 Milliarden Franken zu pessimistisch. Wir wissen jetzt schon: Wir werden die nächsten fünf Jahre kein Defizit haben. Damit ist klar: Die Erhöhung ist nicht nur falsch, sondern auch unnötig.
Ihre Partei hat selbst argumentiert, es seien die Reichen, die viel Mehrwertsteuer bezahlen, weil sie viel mehr konsumieren. Auf den täglichen Bedarf wie Lebensmittel gibt es sowieso einen viel tieferen Steuersatz.
Sie werden ja kaum glauben, dass die ärmere Bevölkerung nur Lebensmittel einkaufen muss. Sie können doch nicht Ihre Augen vor der Realität verschliessen. Es erwartet uns ein rabenschwarzer Herbst!
Weshalb?
Anfang August werden wir die neusten Zahlen zu den Preissteigerungen kennen. Dann könnten im September die Krankenkassen-Prämien um bis zu zehn Prozent steigen. Das wird wohl der schlechteste September seit Jahrzehnten, denn am 25. stehen auch noch die beiden Abstimmungen zur AHV an, mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Frauenrentenalters. Obendrein gehts noch um die Geldgeschenke für Reiche.
Meinen Sie die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer?
Ja, ein solches politisches Angebot in diesem Krisenumfeld und bei einer nahenden Rezession verdient die Goldmedaille für die miserabelste politische Arbeit der letzten zehn Jahre. Statt dass man die Reichen etwas stärker zur Kasse bittet, damit wir denen helfen können, die es brauchen, sollen wir den Multimillionären ein Geschenk machen.
Zurück zur AHV. Es gibt doch keinen Grund, weshalb Männer länger arbeiten sollen als Frauen. Der SGB behauptet, die Frauen würden alle in der Reinigung, im Verkauf, in der Betreuung sowie in der Pflege arbeiten. Es gibt Bundesrätinnen, Zahnärztinnen, Professorinnen und Finanzchefinnen.
Ach, wissen Sie, ich staune immer wieder. In Journalistenkreisen und unter Politikern behaupten viele Leute, die Arbeiterklasse sei verschwunden. Aber kommen Sie mal zu mir. In Renens, westlich von Lausanne, begegnen Sie laufend Arbeiterinnen und Arbeitern. Und meine Stadt ist doch kein Einzelfall. Es sind Hunderttausende, die in der Pflege und im Verkauf arbeiten und die den Franken zweimal umdrehen müssen. Und wissen Sie was?
Nein, aber Sie werden es mir gleich sagen.
Es sind die Geringverdiener, die bis 65 arbeiten müssen. Mein Vater war Arbeiter. Er musste 50 Jahre lang arbeiten. Nur Gutverdiener können es sich leisten, sich das eine oder andere Jahr früher in Pension zu begeben. Zudem sind es nicht nur die Frauen, die 26’000 Franken weniger bekommen durch die geplante Rentenaltererhöhung. Es sind auch ihre Ehemänner. Denn die Ehepaare verlieren ja auch.
Unseren Rentnern geht es glücklicherweise gut und Sie wollen noch eine 13. AHV-Rente und einen Teuerungsausgleich.
Inzwischen geht es unseren Pensionärinnen und Pensionären immer schlechter. Die Leute, die in den letzten zehn Jahren in Rente gegangen sind, haben weniger bekommen, als die davor. Wir sprechen von 20 Prozent Rentenverlust beim gleichen Pensionskassen-Kapital innert eines Jahrzehnts! Im Schnitt hat eine Person bloss etwa 3500 Franken Rente. Wenn auch noch die Teuerung an der Rente nagt, verschlimmert sich die Situation. Und vermutlich sprechen Sie ja die Studie der Swisslife-Versicherung an, die besagt, dass zwei Drittel der Rentner den gewohnten Lebensstandard halten können. Gleichzeitig zeigt sie: ein Drittel kann das nicht – obwohl das laut Verfassung so sein müsste. Ich muss Ihnen den Handlungsbedarf jetzt hoffentlich nicht erklären.
Wenn wir gerade beim Geldausgeben sind: Ihre Prämienentlastungs-Initiative bei den Krankenkassen kostet ja fünf Milliarden Franken.
Die Krankenkassen-Prämie ist faktisch eine Kopfsteuer. Jeder muss sie zahlen. Wenn sich die Prämien um zehn Prozent erhöhen, nimmt das die bürgerliche Mehrheit einfach hin. Wenn aber diese höheren Kosten im Gesundheitsbereich vom Staat bezahlt werden sollen, gibt es einen Aufschrei. Dabei zahlen beim Staat diejenigen, die mehr verdienen auch mehr ein. Das ist gerechter. Niemand darf mehr als zehn Prozent seines Einkommens an die Krankenkasse zahlen. Aber mit diesem Hin und Her müssen wir wohl leben, bis die Einheitskasse kommt.
Sie glauben wirklich an eine einzige Krankenkasse für alle?
Davon bin ich überzeugt. Aber kurzfristig hat die Erhöhung der Prämienverbilligung höchste Priorität. Wir werden das mit der Mitte schon in der nächsten Session angehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir da vorwärtskommen, weil sich das Problem der Prämienlast zuspitzt.
Kommen wir zur EU. Sie spielen gern Fussball. Da müssten Sie wissen, dass man sich bewegen muss. Bewegt hat sich bei der Verkürzung der Voranmeldefrist auf fünf Tage nur Travailsuisse. Nicht der SGB.
Pierre-Yves Maillard (54) ist seit drei Jahren Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Zudem sitzt Maillard seit 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Und nun wird erwartet, dass er 2023 für den Ständerat kandidiert. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.
Pierre-Yves Maillard (54) ist seit drei Jahren Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Zudem sitzt Maillard seit 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Und nun wird erwartet, dass er 2023 für den Ständerat kandidiert. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.
Also, ich habe keine grosse Bewegung beobachtet bei den Aussagen von Adrian Wüthrich. Flexibilität bei der Anwendung der Acht-Tage-Regelung war immer in der Diskussion. Wir denken, dass die Senkung unnötig und gefährlich ist, aber wenn wir etwas verhandeln können, bei dem der Europäische Gerichtshof nichts zu sagen hat und der Lohnschutz steigt, dann sind wir offen für eine Anpassung, wie sie der Travailsuisse-Präsident im Blick angesprochen hat. Derzeit bin ich aber sehr skeptisch, wie die Gespräche mit Brüssel verlaufen. Dabei hatten wir einen guten Ansatz.
Reden Sie vom Plan, dort, wo sich die EU an unseren Regelungen stört, eigenständig Gesetze anzupassen?
Genau, Stabilex war ein gutes Konzept – ohne den Zwang, Weiterentwicklungen von EU-Recht übernehmen zu müssen. Man muss sich das endlich klarmachen: Bei den institutionellen Forderungen der EU geht es darum, dass Kommission und EU-Gerichtshof die Schweizer Gesetzgebung kontrollieren und sie korrigieren können, wenn sie meinen, dass unser Recht nicht dem EU-Recht entspreche. Wir dachten, das sei jetzt vom Tisch, aber es hat sich jetzt wieder geändert.
Wieso?
Weil die Chefunterhändlerin Livia Leu in Brüssels Falle getappt ist und der Bundesrat ihr folgte. In den Sondierungsgesprächen, die Frau Leu geführt hat, verlangte die EU wieder einen institutionellen Rahmen. Jetzt sollen wir erneut darüber verhandeln, was längst gescheitert und beim Volk chancenlos ist.
Mit Stabilex ist es vorbei? Alt Staatssekretär Mario Gattiker führt dazu aber Gespräche mit den Sozialpartnern. Oder nicht?
Ich kann nur sagen, dass für die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervertreter der Austausch in Sachen EU viel schwieriger geworden ist. Es ist ja nicht nur die Acht-Tage-Regelung, an der sich Brüssel stört. Die EU möchte auch die Kautionspflicht weg- und viel weniger Kontrollen haben. Doch so wie das nun aufgegleist ist, bringen Zugeständnisse nichts. Denn wenn wir der EU entgegenkommen, erhalten wir vielleicht da und dort Verbesserungen, zum Beispiel ein Arbeitsverbot für Firmen, die wiederholt gegen die geltenden Gesetze verstossen haben. Aber wegen der Dynamisierung könnte die EU unsere neuen Regeln dann wieder attackieren. Nein, danke!
Und warum soll sie das tun?
Fragen Sie die EU! Einerseits gibt es gute Entwicklungen in Europa, wie die neue Mindestlohnsrichtlinie, die die Schweiz aber nicht übernehmen will. Andererseits stehen zurzeit 24 von 27 Mitgliedsstaaten unter Beobachtung, weil Brüssel meint, diese würden die Entsendung für die Arbeitgeber zu schwierig machen und zu stark kontrollieren. Die Schweiz würde sicher auch beobachtet. Und höchstwahrscheinlich würden unsere strengeren Regeln infrage gestellt.
Was braucht es nun in den Verhandlungen mit der EU?
Auch in den Kreisen, die sich für eine rasche EU-Integration engagieren, ist man mittlerweile zum Schluss gekommen, dass man die institutionelle Fragen in den nächsten Jahren nicht lösen kann. Wir müssen nun versuchen, mit konkreten Vorschlägen und Konzessionen eine Assoziierung beim Forschungsprogramm Horizon Europa zu erhalten. Schliesslich sind Länder wie die Türkei, Grossbritannien und Israel mit dabei, die ja nicht einmal mitmachen bei der Personenfreizügigkeit.
So müssen Sie neue Marktzugangs-Abkommen vergessen, nicht?
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Was für neue Abkommen brauchen wir denn? Was nützte beispielsweise ein Stromabkommen? Nur weil man ein Papier unterschreibt, fliesst der Strom noch nicht. Leider haben wir es bei uns verpasst, die Swissgrid zur bundeseigenen Stromproduzentin und nicht bloss zur Stromüberträgerin zu machen. So hätten wir die notwendigen Reservekapazitäten. Nun sind wir aber teilweise aufs Ausland angewiesen. Wenn in Frankreich der Strom knapp wird, wird man sicher nicht den eigenen Bürgern den Strom abstellen, damit man die Lieferverträge mit der Schweiz erfüllen kann. Heute besteht die dringende Priorität, endlich selbst mehr Strom im Inland zu produzieren. Ein Abkommen nützt da nichts.