Als die Taliban im August die afghanische Regierung stürzten, drängten Tausende Menschen an den Flughafen in Kabul. Manche rannten auf das Rollfeld und klammerten sich an startende Flugzeuge, um das Land zu verlassen. Die meisten blieben zurück. Und mit ihnen der Wunsch, das Land zu verlassen.
Die Uno schätzt, dass rund 20 Millionen Afghaninnen und Afghanen nicht genug zu essen haben. Die Temperaturen sinken in Kabul schon jetzt auf minus neun Grad. Und die Taliban sollen seit der Machtübernahme mehr als 100 ehemalige Polizisten und Geheimdienstleute in den Provinzen Ghazni, Helmand, Kandahar und Kunduz getötet haben.
Platzsuche für 85'000 Menschen
Angesichts der humanitären Krise hat das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Länder der Welt aufgerufen, in den nächsten fünf Jahren mindestens 85'000 Menschen aus Afghanistan aufzunehmen, im Rahmen von Resettlement-Programmen. Dabei werden besonders schutzbedürftige Menschen – Frauen, Kinder, Kranke – von einem Erstaufnahmeland in ein sicheres Drittland umgesiedelt.
Zwar sind die Grenzen zu den Nachbarn Tadschikistan und Usbekistan derzeit geschlossen, doch – unter anderem mit der Hilfe von Schleusern – gelingt manchen die Flucht aus Afghanistan nach Pakistan oder in den Iran. Zudem waren schon in den Monaten und Jahren vor dem Regimewechsel zahlreiche Afghaninnen und Afghanen in diese Nachbarländer geflohen.
Um den besonders Schutzbedürftigen eine Perspektive zu bieten, war der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi (64), im Oktober nach Bern gereist. Dabei hatte er den Bundesrat gebeten, das Schweizer Resettlement-Kontingent zu erhöhen. Doch Aussenminister Ignazio Cassis (60, FDP) winkte im Namen des Bundesrats ab: «Die Frage des Resettlements ist im Moment nicht eine prioritäre Frage», sagte er im SRF.
UNHCR betreibt Resettlement
In der zweiten Sessionswoche begründete die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Sutter (57, FDP) diesen Entscheid auch im Parlament. Auf eine entsprechende Frage von SP-Nationalrätin Samira Marti (27) sagte sie, Resettlement müsse im Kontext Afghanistans international koordiniert werden und sei in der aktuellen humanitären Notlage nicht wirksam. Zudem wies sie darauf hin, «dass das UNHCR derzeit kein Resettlement aus den Nachbarländern Afghanistans – namentlich Iran und Pakistan – betreibt». Die Schweiz sei daher, wie die meisten ihrer europäischen Partner, der Ansicht, dass die Priorität aktuell bei der Unterstützung vor Ort liege.
Nur: Dass das UNHCR kein Resettlement aus Iran und Pakistan betreibt, stimmt nicht. Anja Klug, Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein, sagt: «Im Rahmen des laufenden Resettlements konnten 2020 und 2021 afghanische Flüchtlinge aus Iran und Pakistan ausreisen.» Die Zahl der Flüchtlinge, die umgesiedelt werden konnten, sei allerdings noch tief. Und zwar, weil die Länder nur wenige Plätze zur Verfügung stellten.
Das heisst: Würden Staaten wie die Schweiz mehr Plätze anbieten, könnte das UNHCR auch mehr Menschen umsiedeln. So aber konnten in diesem Jahr nur 74 Afghaninnen und Afghanen den Iran und 16 Pakistan verlassen. SP-Nationalrätin Samira Marti findet das beschämend. Sie sagt: «Die Schweiz muss ihr Resettlement-Kontingent umgehend aufstocken, um den Verletzlichsten – Frauen, Kindern, Homosexuellen – im Krisengebiet zu helfen.»
Keine verschiedenen Programme
Beim Staatssekretariat für Migration (SEM) heisst es auf Nachfrage, dass Karin Keller-Sutters Aussagen nicht im Widerspruch zu jenen des UNHCR stünden. Die Bundesrätin habe bloss festgestellt, «dass das UNHCR zurzeit im Afghanistan-Kontext kein spezifisches Resettlement-Programm» betreibe.
Diese Aussage dürfte damit zu tun haben, dass die Schweiz höchstens jene Menschen aufnehmen möchte, die seit der Machtübernahme der Taliban im August aus Afghanistan geflohen sind und nicht jene, die teilweise schon seit mehreren Jahren in Pakistan oder im Iran leben.
Das UNHCR allerdings hat nicht verschiedene Resettlement-Programme für Flüchtlinge aus Afghanistan, wie Anja Klug sagt: «Beim Resettlement sind in erster Linie die Flüchtlingseigenschaft und die Schutzbedürftigkeit der Menschen entscheidend. Der Zeitpunkt der Flucht spielt eine untergeordnete Rolle.»
Das UNHCR baut derweil seine Resettlement-Kapazitäten in Iran und in Pakistan aus, weil man erwartet, dass verschiedene Länder bald mehr Plätze zur Verfügung stellen werden. Im Fall der Schweiz ist das allerdings nach wie vor fraglich.