Der Entscheid hat Sprengkraft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) tritt nicht auf eine Klage von Genfer Gewerkschaften gegen das während der Corona-Pandemie in der Schweiz eingeführte Demonstrationsverbot ein. Das hat die Grosse Kammer am Montag entschieden.
Das Gericht befand eine Klage des Dachverbandes der Genfer Gewerkschaften CGAS für unzulässig. Diese Organisation habe, als sie sich an den EGMR wandte, in der Schweiz noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft.
Die Dachorganisation der Genfer Gewerkschaften hatten geklagt, weil sie 2020 ihre 1.-Mai-Demo nicht durchführen konnte. Der Bundesrat um Gesundheitsminister Alain Berset (51) hatte im März 2020 Veranstaltungen verboten, um die Corona-Pandemie zu bekämpfen. Wer sich nicht daran hielt, dem drohten happige Strafen. Sogar eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren war damals denkbar.
Die Genfer Gewerkschaften durften also am 1. Mai nicht auf die Strasse und zogen stattdessen nach Strassburg. Vor dem EGMR sahen sie ihre Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verletzt. Unter anderem brachten sie vor, dass Arbeiten in Büros oder Fabriken mit entsprechenden Schutzkonzepten noch möglich war – Demonstrieren unter freiem Himmel aber nicht.
In erster Instanz verurteilt
Und tatsächlich: In erster Instanz wurde die Schweiz verurteilt – das Verbot von öffentlichen Veranstaltungen während der Pandemie sei zu streng gewesen. Der Entscheid fiel hauchdünn: Mit vier zu drei Stimmen entschieden die Richter, dass die Schweiz die Menschenrechte verletzt habe.
Zwar erkannte auch das Gericht an, dass das Coronavirus eine ernste Bedrohung für die öffentliche Gesundheit war und Einschränkungen des Demonstrationsrechts zulässig sein könnten. Jedoch hätten die Betroffenen hier kein Gericht gefunden, das den Fall überprüft, das Verbot sei sehr lange in Kraft gewesen und die angedrohten Strafen zu hart.
Urteil mit Symbolcharakter
Die Schweiz aber hat das Urteil weitergezogen. «Es ging zu Beginn der Pandemie darum, die Gesundheit und Menschenleben zu schützen gegenüber einer hochansteckenden viralen Erkrankung, gegen die keine wirksame Behandlung verfügbar war», begründete das Bundesamt für Justiz. Selbst der EGMR habe in einem Grundsatzurteil festgehalten, dass den Staaten gerade beim Schutz der öffentlichen Gesundheit ein grosser Ermessenspielraum gewährt wird.
Das neue Urteil hat Symbolcharakter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zwar ist das Gesetz schon lange nicht mehr in Kraft, allenfalls müsste die Schweiz der Gewerkschaft eine Entschädigung bezahlen, sollte der Bund verlieren. Aber es dürfte ein Zeichen sein, wie der Gerichtshof solche Einschränkungen wertet – und ein Learning für die nächste Pandemie. (bro)