Olga Pfunt (44) konnte die Tränen nicht zurückhalten, als sie zu Hause am Küchentisch den Brief aus Lausanne öffnete und die Entscheidung des Bundesgerichts las. Eineinhalb Jahre hatte die Geschäftsleitungsassistentin einer Bank für ihre Mutter gekämpft. Vergebens. Auch die höchste Instanz schmettert ihre Beschwerde ab. Rentnerin Raisa Lifanowa (72), russische Staatsbürgerin, darf nicht zu ihrer Tochter und deren Familie in die Schweiz ziehen.
Sie vermisst ihre Enkel
Für Tochter Olga ist der Entscheid ein schwerer Schlag. «Meine Mutter ist mein Ein und Alles», sagt Pfunt, die 2002 von Russland in die Schweiz kam und vor fünf Jahren eingebürgert wurde. Gemeinsam mit ihrem Mann Zurab (40), ein Georgier, und ihren beiden Kindern wohnt sie im ersten Stock eines schon etwas in die Jahre gekommenen Blocks in der Zürcher Agglo. Durch die weiss gemusterten Vorhänge vor den Stubenfenstern blickt man auf den Bahnhof von Schwerzenbach ZH.
Auch ihre Mutter sollte hier einziehen, so der Plan der Familie. Die Rentnerin ist seit vielen Jahren verwitwet und lebt allein in Georgien. «Sie ist einsam und braucht Gesellschaft», sagt Pfunt. Besonders die beiden Enkelkinder würde sie sehr vermissen.
EU-Bürger haben mehr Rechte als Schweizer
Pfunt ist traurig – aber auch wütend. Denn: Wäre sie nicht Schweizerin, sondern hätte einen EU-Pass, könnte ihre Mutter längst hier sein. EU-Bürger sind hierzulande beim Familiennachzug deutlich besser gestellt als Schweizer. Sie dürfen Ehepartner, Eltern, Schwiegereltern oder Kinder nachziehen, egal, wo diese wohnen. Das schreibt das Freizügigkeitsabkommen fest. Für Schweizer hingegen gilt das Ausländergesetz. Abgesehen von Ehegatten und minderjährigen Kindern können sie Familienangehörige nur nachziehen, wenn diese in einem EU- oder Efta-Mitgliedsstaat wohnen – nicht aber in einem Drittstaat. Ein solcher ist auch Georgien.
Freunde und Bekannte, denen Pfunt von dieser Ungleichbehandlung erzählte, meinten erst, sie scherze. Doch die Inländerdiskriminierung ist kein Witz, sondern seit über zehn Jahren Tatsache.
Inländerdiskriminierung verstösst gegen Verfassung
«Die Diskriminierung von Schweizern gegenüber anderen Staatsangehörigen verstösst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die Verfassung», sagt Alberto Achermann, Professor für Migrationsrecht an der Uni Bern. Trotzdem besteht sie weiter. Das Bundesgericht hat die stossende Ungleichbehandlung zwar anerkannt und das Parlament 2010 aufgefordert, sie abzuschaffen. Dieses sah trotz der Aufforderung der höchsten Richter aber keinen Grund zu handeln. Bis heute.
Olga Pfunt ist nicht die Einzige, die sich gegen die Inländerdiskriminierung bis vor Bundesgericht gewehrt hat. Nützen tuts nichts. Die Richter in Lausanne verweisen in den Urteilen immer wieder auf das untätige Parlament – und bleiben selbst ebenfalls untätig. «Das ist sehr bedauerlich», sagt Marc Spescha. Der Anwalt ist spezialisiert auf Migrationsrecht und kritisiert die Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug seit Jahren harsch. Er spricht von einer «kleinlauten Kapitulation» der Gesetzeshüter vor dem Parlament.
Für Spescha ist klar: «Es ist Aufgabe des Bundesgerichts als Menschenrechtsgericht, gesetzliche Diskriminierung zu beseitigen, wenn das Parlament seine eigene verfassungsmässige Pflicht missachtet.» «Dass die Diskriminierung von den ‹Volksvertretern› den eigenen Landsleuten zugemutet wird, mindert das Unrecht nicht.»
Auch Migrationsrechts-Professor Achermann sieht die passive Haltung des Bundesgerichts kritisch. Der Entscheid, der Inländerdiskriminierung nicht selbst einen Riegel zu schieben, sei klar politisch motiviert. Will heissen: Man will dem Parlament nicht dreinreden – schon gar nicht bei einem solch politisch heissen Eisen, wie es der Familiennachzug ist.
«Ich gebe nicht auf»
Das letzte Wort wird nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) haben. Olga Pfunt hat in Strassburg Klage gegen die Schweiz eingereicht – wegen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf Familienleben. Es ist das erste Mal, dass die Inländerdiskriminierung in der Schweiz vom EGMR beurteilt werden wird. Die Migrationsrechts-Experten Spescha und Achermann rechnen der Klage intakte Chancen aus. «Es ist durchaus möglich, dass am Schluss ausgerechnet die sogenannten ‹fremden Richter› den Schweizern zu ihrem Recht verhelfen», sagt Spescha.
Für Olga Pfunt ist selbstverständlich, dass sie das Urteil weiterzieht. «Ich gebe nicht auf, das schulde ich meiner Mutter», sagt sie. «Als ihre Tochter ist es meine Pflicht, für sie zu kämpfen. Bis zum Schluss.»
Die bestehende Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug geht zurück auf das Jahr 2008, als ein neues Ausländergesetz in Kraft trat. Dort wurde festgeschrieben, dass Schweizer ein Recht auf Familiennachzug haben, wenn die Angehörigen in einem EU- oder Efta-Staat wohnen. Das Ziel war dabei explizit, den Familiennachzug für Schweizer Bürger gleich zu regeln wie für EU-Bürger, für die seit 2002 das Freizügigkeitsabkommen gilt.
Doch wegen einer Praxisänderung des Europäischen Gerichtshofs führte das neue Gesetz schon wenige Monate später zur Diskriminierung von Schweizern. In einem wegweisenden Urteil hielten die EU-Richter nämlich fest, dass EU-Bürger im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens auch Familienmitglieder nachziehen dürfen, die nicht in einem Mitgliedsstaat leben. Das Bundesgericht übernahm diese neue Praxis – womit Schweizer plötzlich schlechtergestellt waren.
Die SP wollte diese Ungleichbehandlung im Gesetz schnellstmöglich wieder abschaffen. Der damalige SP-Nationalrat Andy Tschümperlin reichte einen entsprechenden Vorstoss ein. Der Vorschlag sah vor, dass auch Schweizer Familienmitglieder aus Drittstaaten nachziehen dürfen. Das wäre der einfachste Weg, um die Inländerbenachteiligung aufzuheben.
Doch FDP, CVP, BDP und SVP sträubten sich dagegen – mit Erfolg. Das Hauptargument der Gegner: So kämen mehr Ausländer ins Land. Denn der Familiennachzug macht einen beachtlichen Teil der Zuwanderung aus. 2018 war es fast ein Drittel.
Der Familiennachzug sei «einer der wenigen verbleibenden Bereiche, in denen die Schweiz ihre Migrationspolitik noch selbst bestimmen kann», hiess es damals in einem Bericht der zuständigen Nationalratskommission. Das sollte so bleiben – auch wenn man damit einen Verfassungsbruch in Kauf nahm.
Die bestehende Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug geht zurück auf das Jahr 2008, als ein neues Ausländergesetz in Kraft trat. Dort wurde festgeschrieben, dass Schweizer ein Recht auf Familiennachzug haben, wenn die Angehörigen in einem EU- oder Efta-Staat wohnen. Das Ziel war dabei explizit, den Familiennachzug für Schweizer Bürger gleich zu regeln wie für EU-Bürger, für die seit 2002 das Freizügigkeitsabkommen gilt.
Doch wegen einer Praxisänderung des Europäischen Gerichtshofs führte das neue Gesetz schon wenige Monate später zur Diskriminierung von Schweizern. In einem wegweisenden Urteil hielten die EU-Richter nämlich fest, dass EU-Bürger im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens auch Familienmitglieder nachziehen dürfen, die nicht in einem Mitgliedsstaat leben. Das Bundesgericht übernahm diese neue Praxis – womit Schweizer plötzlich schlechtergestellt waren.
Die SP wollte diese Ungleichbehandlung im Gesetz schnellstmöglich wieder abschaffen. Der damalige SP-Nationalrat Andy Tschümperlin reichte einen entsprechenden Vorstoss ein. Der Vorschlag sah vor, dass auch Schweizer Familienmitglieder aus Drittstaaten nachziehen dürfen. Das wäre der einfachste Weg, um die Inländerbenachteiligung aufzuheben.
Doch FDP, CVP, BDP und SVP sträubten sich dagegen – mit Erfolg. Das Hauptargument der Gegner: So kämen mehr Ausländer ins Land. Denn der Familiennachzug macht einen beachtlichen Teil der Zuwanderung aus. 2018 war es fast ein Drittel.
Der Familiennachzug sei «einer der wenigen verbleibenden Bereiche, in denen die Schweiz ihre Migrationspolitik noch selbst bestimmen kann», hiess es damals in einem Bericht der zuständigen Nationalratskommission. Das sollte so bleiben – auch wenn man damit einen Verfassungsbruch in Kauf nahm.